Die Regierung will nun offenbar doch Atomkraftwerke länger laufen lassen

Stresstest, Streckbetrieb und andere große Ideen

Die Regierungskoalition hat stets versprochen: Eine Laufzeit­verlängerung der Atomkraftwerke soll es trotz der Gaskrise nicht geben. Doch nun scheint sie ihre Meinung zu ändern.

Es ist eine der absurden Debatten, wie sie hierzulande gern und leidenschaftlich geführt werden: Mitten in einer Hitzewelle überbieten sich Politiker mit dramatischen Warnungen vor einem kalten Winter. Wenn Russland zu wenig oder gar kein Gas mehr liefere, werde es mit der Energieversorgung kritisch werden. Angesichts der von der Oppo­sition und von interessierten Medien kräftig geschürten Unsicherheit hat Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) in ­einer Ansprache an die Bevölkerung einen berühmten Songtitel zitiert: »You’ll never walk alone«.

Die Bürger sind zu Einsparungen aufgefordert, und der Staat kündigt an, ihnen helfen zu wollen, die teuren Nebenkostenrechnungen zu begleichen. Heftig geführte Kontroversen drehen sich freilich nicht um den Öl-, Gas- oder Kohleverbrauch, sondern um die letzten drei deutschen Atomkraftwerke in Niedersachsen (AKW Emsland), ­Baden-Württemberg (AKW Neckarwestheim-2) und Bayern (AKW Isar-2). Sie liefern zusammen sechs Prozent der produzierten Elektrizität, das heißt sie sind mit etwa 1,5 Prozent an der Gesamtenergieversorgung beteiligt. Nach dem geltenden Atom­gesetz sollen sie spätestens am 31. Dezember vom Netz gehen.

Dem Chor der Atomkraftfreunde steht Friedrich Merz (CDU) vor. Er setzt sich mit nationalem Pathos in Szene: »Die Dinger müssen weiter laufen« und »Tut es für Deutschland!«

Aber der Ukraine-Krieg ändere eben alles, finden Politiker und Journalisten unterschiedlicher Couleur. Meist sind es die gleichen, die schon vor dem russischen Angriff für eine Laufzeitverlängerung eintraten. Sie haben ihre Meinung also gar nicht geändert, erwarten das aber ganz dringend von der Gegenseite.

Dem Chor der Atomkraftfreunde stehen die Vorsitzenden der beiden Unionsparteien, Friedrich Merz (CDU) und Markus Söder (CSU) vor. Merz setzte sich mit nationalem Pathos in Szene: »Die Dinger müssen weiter laufen« und »Tut es für Deutschland!« Söder präsentierte ein Schnellgutachten des TÜV Süd, wonach die Kraftwerke ohne neuen Brennstoff ein paar Monate länger betrieben werden könnten. Der TÜV Süd ist das Unternehmen, das dem brasilianischen Bergbaukonzern Vale die Unbedenklichkeit seiner An­lage in Brumadinho bescheinigt hatte, wo sich am 25. Januar 2019 eine giftige Schlammlawine Bahn brach und 270 Menschen unter sich begrub. Der TÜV Süd wurde auf Schadensersatz verklagt, gegen den zuständigen Manager ermittelt die Staatsanwaltschaft München unter anderem wegen Bestechung, fahrlässigen Herbeiführens ­einer Überschwemmung und fahrlässiger Tötung, alles in Nebentäterschaft durch Unterlassen. Solange kein Urteil ergangen ist, gilt die Unschuldsvermutung. Gleichwohl spricht es für sich, dass Söder ausgerechnet hier sein Wunschgutachten bestellte.

Im Regierungslager unterstützt die FDP, wenig überraschend, solche Ideen. Während sich die SPD ein bisschen bedeckt hält, blicken die Medien besonders gespannt auf die Reaktionen der Grünen. Bei ihnen löste die Parteivorsitzende Ricarda Lang mit einem Fernsehauftritt bei Anne Will am 17. Juli ziemliche Unruhe aus. Von der Moderatorin in die Enge gedrängt, sagte Lang, »Stand jetzt« gebe es keinen Anlass, vom Termin für die Stilllegung abzuweichen. Sie könne also nichts ausschließen, fragte Will nach, und in der Tat: Lang konnte und wollte nicht. Zugleich müsse man aber schauen, wie sich die Lage auf dem Strommarkt entwickele.

Die Sprecherin der Grünen hatte die undankbare Aufgabe, zu erklären, warum Vizekanzler Robert Habeck einen erneuten »Stresstest« angeordnet hat, um herauszufinden, wie stark die Stromversorgung wegen des kommenden Gasmangels schlimmstenfalls gefährdet sein könnte. Eine ähnliche Prüfung hatte das Wirtschaftsministerium gemeinsam mit dem Umweltministerium bereits von März bis Mai durchgeführt. Ergebnis damals: Die Versorgung ist gesichert. Warum also ein weiterer Stresstest? Aufklärung gab die Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bundestag, Katrin Göring-Eckardt, am Sonntag in der gleichen Sendung: Leider gebe es ein bayerisches »Sonderproblem«. Das Bundesland liege sowohl beim Ausbau der Windenergie als auch bei der Bereitstellung von Überlandleitungen im Rückstand und werde deshalb möglicherweise tatsächlich Probleme im Winter bekommen. Eine Laufzeitverlängerung mit der Bestellung neuer Brennelemente schloss Göring-Eckardt aus, eine kurzfristige Verlängerung des Betriebs von Isar-2 hielt sie aber für möglich.

Die bayerischen Spezialitäten sind freilich alles andere als neu. Es ist schwer vorstellbar, dass sie bei der ersten Überprüfung der Lage durch die Wirtschafts- beziehungsweise Umweltministerien von Robert Habeck und Steffi Lemke übersehen wurden. Göring-Eckardt hat nur das allmähliche Zurückweichen vor dem Druck der Atomlobby bekanntgegeben. Nach diesem Signal wird das sogenannte Umdenken bei den Grünen wohl rasch einsetzen. Der Stresstest hilft ihnen, die Verantwortung in die Länder wie Bayern zu verschieben. Dabei aber sorgt man für ein Dilemma: Endet der Stresstest ­negativ – keine ernsthafte Gefährdung der Stromversorgung –, dann wird sich die Industrie kaum bemüßigt fühlen, den Appellen zum Stromsparen zu folgen. Endet er positiv – Notfall möglich –, werden alle Lieferanten von Energieträgern, Russland vorneweg, die Preise noch weiter in die Höhe zu treiben versuchen.

Die technische Lösung, die nun zumindest für Isar-2 auf dem Programm stehen könnte, nennt sich »Streckbetrieb«. Der ist mit dem Fall eines Flugzeugs vergleichbar, das sich nach einer langen Reise bereits im Landeanflug auf Frankfurt befindet, aber nach München umdirigiert werden soll, weil ein sehr wichtiger Fluggast an Bord einen sehr wichtigen Termin in der bayerischen Landeshauptstadt nicht verfehlen darf. Es ist der letzte Flug der Maschine, die anschließend altersbedingt ausrangiert werden soll, und weil dem so ist, hat die Fluggesellschaft schon mal den Wartungsaufwand auf das Allernötigste reduziert. Der Pilot sagt, mit dem vorhandenen Treibstoff sei der Umweg machbar, wenn er die Erlaubnis erhalte, ein paar Vorschriften zu umgehen.

Weder in der Luft noch auf der Schiene oder Straße wäre ein solches Verfahren zulässig. Aber in der Nuklearindustrie, wo es sich nicht um gewöhnliche Restrisiken handelt, sondern um eine »Hochrisikotechnologie«, wie das Bundesverfassungsgericht vor fünf Jahren feststellte, soll das Heimwerkerprinzip »Geht nicht, gibt’s nicht« ­gelten? Das spottet jeder Beschreibung. Behalten wir aber im Kopf, dass der Vorschlag vom TÜV Süd gekommen ist.

Solange sich die Gesellschaft den Spaß von Elektroscootern in ihren Städten leistet, solange sie es hinnimmt, dass Internetkonzerne in riesigen Rechenzentren immer mehr personen­bezogene Daten speichern, und solange sie nichts dabei findet, wenn Bitcoins, die Währung der Schattenwelt, mit einem obszön hohen Energieverbrauch produziert werden, kann von einem Strommangel keine Rede sein. Auf Isar-2 kann verzichtet werden.