Polen will Milliarden in den Bau von Atomkraftwerken investieren

Atomkraft, ja bitte

Die polnische Regierung will mit Atomenergie die Abhängigkeit von der Kohle verringern. Die linke Partei Lewica Razem forderte sogar, Deutschland solle seine Atomkraftwerke Polen verpachten, statt diese abzuschalten.

Mit Verweis auf die Energieknappheit in Europa wird in Deutschland wieder über Atomenergie diskutiert. Im Juli mischten sich überraschend polnische Politiker ein. »Wenn die Deutschen ihre Kernenergie nicht selbst nutzen wollen, sollten sie sie verpachten«, forderte Paulina Matysiak, Abgeordnete der kleinen linken Partei Lewica Razem. Deutsche Atomkraftwerke sollten weiterlaufen »zum Wohle der Sicherheit Europas und des Klimas«, schrieb auch das Parteivorstandsmitglied Adrian Zandberg auf Twitter.

In Polen befürchtet man, dass die durch Russlands Krieg gegen die Ukraine verursachte Energieknappheit ohne Strom aus deutschen Atomkraftwerken noch schlimmer werden könnte. Der Vorstoß wurde auch vom Europa-Ausschuss des polnischen Parlaments debattiert, obwohl klar ist, dass er keine Chance hat. Das deutsche Wirtschaftsministerium lehnt ihn eindeutig ab. »Es handelt sich um eine Hochrisikotechnologie, und das Risiko würde in Deutschland verbleiben«, teilte eine Sprecherin des Ministeriums der polnischen Tageszeitung Gazeta Wyborcza mit.

Natürlich war der Vorschlag nicht ernst gemeint. »Es ging darum, Druck auf die deutsche Gesellschaft und ­Politik auszuüben und zu zeigen, dass ihr Handeln völlig irrational ist, aber auch andere Länder in Europa betrifft. Uns allen steht ein harter Winter bevor«, sagte Maciej Konieczny auf Nachfrage der Jungle World. 2015 verließ er die polnischen Grünen und gründete Lewica Razem mit. Seit den Sejm-Wahlen 2019 sitzt er für das Wahlbündnis Sojusz Lewicy Demokratycznej (Bund der ­demokratischen Linken) im Parlament. Atomkraftwerke seien der beste Weg, den Klimawandel zu bekämpfen. Atomkraft sei »eine sichere und saubere Energiequelle«. Statt­dessen Kohlekraftwerke zu eröffnen, sei »ein Verbrechen gegen das Klima«, so Konieczny.

Tatsächlich hat auch die länderübergreifende Nutzung eines Atomkraftwerks in Europa bereits funktioniert: In den achtziger Jahren wurde es in Krško an der späteren Grenze zwischen Kroatien und Slowenien in Betrieb genommen. Nach dem Zerfall Jugoslawiens im Jahr 1991 hätten der Gazeta Wyborcza zufolge Slowenien und Kroatien einen Weg gefunden, den Betrieb, die Kosten und die Abfallentsorgung gemeinsam zu organisieren. 2001 sei ein neues Abkommen unterzeichnet worden, das die Kraftwerksnutzung ­regelt: Beide Länder sind Miteigentümer des Kraftwerks und haben jeweils ­Anspruch auf die Hälfte des erzeugten Stroms.

Das Catholic Climate Movement will auch die mehrheitlich konservativen und katholischen Polen für den Klimaschutz gewinnen.

»Wir sind der Meinung, dass wir unsere Energiepolitik stärker europäisch ausrichten sollten. Wir sind so sehr miteinander verbunden, dass wir eine gemeinsame Basis und gemeinsame Strategien brauchen«, sagt Konieczny. Bislang ist Polen nicht durch Engagement beim Klimaschutz aufgefallen. Als einziges Mitglied der Europäischen Union hat es sich nicht zur Klimaneutralität bis 2050 verpflichtet. Immer wieder verweigerte die national-konserva­tive Regierung ambitioniertere Klimaziele und drohte noch vergangenes Jahr mit dem Rückzug aus dem EU-Emissionshandelssystem. Noch vor wenigen Jahren stammte die in Polen verbrauchte Energie fast komplett aus der Kohleverbrennung, noch immer ist das Land zu 70 Prozent von Kohle abhängig, insbesondere von der Kohleverstromung. Zwar zählen deutsche Kohlekraftwerke zu den größten CO2-Emittenten Europas, Spitzenreiter war aber jahrelang mit Emissionen von rund 38 Millionen Tonnen CO2 jährlich das polnische Braunkohlekraftwerk Bełchatów.

Aber Polen ist auch an die europäische Gesetzgebung gebunden. Außerdem wird die Kohleverbrennung immer unrentabler und die polnischen Kohlevorkommen reichen nicht zur Deckung des Energiebedarfs eines Landes aus, in dem sogar noch zwei Millionen Haushalte mit Kohleöfen heizen. Polen importierte deshalb immer mehr Kohle, genauso wie Öl und Gas, aus Russland – doch ist das Land auf dem besten Wege, sich davon unabhängig zu machen. 2021 hat die polnische Regierung das Strategiepapier »Polnische Energie­politik 2040« (PEP 2040) veröffentlicht. Der Anteil der Kohle an der Stromerzeugung soll demnach deutlich sinken, das Kraftwerk Bełchatów ab 2030 schrittweise bis 2036 stillgelegt werden und bis zur Mitte des Jahrhunderts sollen die letzten Tagebaue schließen. Mit dem Ziel, bis zum Jahr 2040 Energie zu 50 Prozent aus nahezu emissionsfreien Quellen zu produzieren, bleibt Polen zwar hinter den EU-Klimazielen zurück, eine Wende ist es trotzdem.

Präsident Andrzej Duda, der bis zu seiner Wahl 2015 Mitglied der Regierungspartei PiS war, hatte noch 2018 während der Klimakonferenz im polnischen Katowice vor Kumpeln bei einem traditionellen Bergarbeiterfest gesagt: »Solange ich in Polen Präsident bin, lasse ich nicht zu, dass irgendjemand den polnischen Bergbau ermordet. Kohle ist unser größter Schatz.« Das im Jahr 2019 eingerichtete Klimaministerium beschrieb das CO2-Reduktionsprogramm nun als »eine klare Vision der polnischen Energietransformationsstrategie« und »einen Kompass für Unternehmer, lokale Regierungen und Bürger bei der Transformation der polnischen Wirtschaft hin zu niedrigen Emissionen«.

Das Programm sieht neben dem Ausbau von Wind- und Solarenergie auch die Inbetriebnahme eines ersten AKW bis 2033 vor, bis 2043 sollen sechs Reaktoren in Betrieb sein. Pläne zur Entwicklung der Atomenergie in Polen reichen bis in die siebziger Jahre zurück, doch nach der Tschernobyl-Katastrophe, aufkommenden Protesten und der politischen Wende von 1989 wurde der bereits begonnene Bau von zwei Reaktoren sowjetischer Bauart eingestellt. Derzeit sind ein bis zwei neue Reaktoren mit einer Kapazität von bis zu 1,5 Gigawatt (GW) geplant, in den Städtchen Żarnowiec, wo auch die Bauruine des zu sozialistischen Zeiten geplanten AKW steht, und Lubiatowo-Kopalino nordwestlich von Danzig.

Auch bei europäischer Zusammenarbeit sticht Polen selten hervor: Gegenüber dem zuständigen Büro zur Abstimmung von Umweltauswirkungen in Grenzregionen, der Espoo Convention in Genf, hieß es von der polnischen Regierung, dass die Nachbarstaaten nicht von ihren Plänen betroffen seien, daher also eine Konsultation mit Deutschland oder eine Anhörung deutscher Anwohnerinnen unnötig sei. Ein Gutachten im Auftrag der deutschen Grünen ergab, dass bis zu 1,8 Millionen Menschen in Deutschland evakuiert werden müssten, sollte es bei einem AKW am geplanten polnischen Stand­ort zu einem GAU kommen.

Bis 2043 soll Polen über eine Leistung von sechs bis neun Gigawatt aus Nuk­learreaktoren verfügen. Das Land kann die Kosten von geschätzt 23 Milliarden Euro jedoch nicht alleine tragen. Ministerpräsident Mateusz Morawiecki (PiS) sagte, dass für Technologietransfer und Finanzierung »bewährte Partner aus der Nato und der westlichen Welt« ideal seien. Kurz vor der Wahlniederlage von US-Präsident Donald Trump unterzeichneten die USA und Polen eine vorläufige Vereinbarung über die Zusammenarbeit. Polen baut außerdem auf eine neue Technologie, Small Modular Reactors (SMR). Der Bergbaukonzern KGHM, einer der größten polnischen Stromverbraucher, ging mit der US-Firma Nuscale einen Vertrag über die Lieferung dieser kleinen Reaktorblöcke ein, bereits 2029 sollen sie in Betrieb gehen. Nuscale erhielt erst im August 2020 als erster SMR-Entwickler die ­Betriebsgenehmigung der US-Nuklear­aufsichtsbehörde.

Proteste gegen die Atompläne der Regierung gibt es kaum. Die Zustimmung zur Atomkraft ist in den vergangenen Jahren kontinuierlich gestiegen. Die Partia Zieloni (Grüne Partei) lehnt als einzige so wie ihre europäischen Partnerparteien AKW ab. In den vergangenen Jahren gab es auch in Polen Zulauf zu Klimabewegungen wie dem Youth Climate Strike, die die polnische Gesellschaft auch mit dem Argument für sich gewinnen wollen, dass die Kohleverbrennung im Winter zur EU-weit schlechtesten Luftqualität führt. Bei den Klimainitiativen gibt es oft Überschneidungen mit den großen ­Protestbewegungen, die sich für LGBTQI-Rechte und gegen die scharfe Abtreibungsgesetzgebung einsetzen. Das Catholic Climate Movement hingegen will auch die mehrheitlich konservativen und katholischen Polen für den Klimaschutz gewinnen und nutzt dafür eher nationale Rhetorik. Aktivisten der polnischen Gruppe Fota-4-Climate haben 2019 vorm baden-württember­gischen Atomkraftwerk Philippsburg gegen die Abschaltung der AKW demonstriert und argumentierten, dass mit jedem vom Netz genommenen Meiler der CO2-Ausstoß steige, weil stattdessen Kohlestrom genutzt werde.

In einer Umfrage Ende 2021 sprachen sich 74 Prozent der Polen für AKW in Polen aus, 58 Prozent hätten kein Pro­blem damit, in unmittelbarer Nachbarschaft eines AKW zu leben – obwohl unklar bleibt, was mit den radioaktiven Abfällen geschehen soll. »Ich halte es für unvernünftig, Kernkraftwerke angesichts des unvorstellbaren Ausmaßes der Klimakatastrophe wegen der geringen zu erwartenden Gefahren zu schließen«, sagt der Abgeordnete Konieczny.

Der größte Teil der polnischen Linken und der Klimabewegung ist laut ­Konieczny für die Atomenergie. »Dass jetzt auch in Deutschland umgedacht wird, ist eine Art Realitätscheck. Wir müssen manchmal damit umgehen, dass die Linke falsch liegt und ihre ­Ansichten ändern muss.« Seit Russlands Krieg ­gegen die Ukraine und der dadurch ausgelösten Energiekrise steigt die Zustimmung zur Atomenergie auch in der deutschen Bevölkerung wieder an. ­Einer kürzlich vom Spiegel ver­öffentlichten Umfrage des Instituts Civey ­zufolge befürworteten sogar 41 Prozent der Befragten den Neubau von AKW in Deutschland.