Die Filme von Douglas Sirk sind noch immer relevant

Der Himmel ist knauserig

Berühmt für seine im Hollywood der Fünfziger gedrehten Melodramen, zog sich der Emigrant Douglas Sirk nach seiner Rückkehr nach Europa in die Schweiz zurück. Das 75. Locarno Film Festival ehrt den Regisseur mit einer Retrospektive.

Die Filmerzählung fängt bei Douglas Sirk mit dem Titel an. Das gilt im Besonderen für seine Melodramen, in denen er die Regeln des Genres so heftig – und dabei völlig ungerührt – umarmte, dass eine radikale Form entstand. Titel wie »All I Desire« (»All meine Sehnsucht«, 1953), »There’s Always Tomorrow« (»Es gibt immer ein Morgen«, 1956), »Magnificent Obsession« (»Die wunderbare Macht«, 1954), »All That Heaven Allows« (»Was der Himmel erlaubt«, 1955) und »Imitation of Life« (»Solange es Menschen gibt«, 1959) kondensieren, was sich in den Filmen auf eine so brutale wie zärtliche Weise ausformuliert findet: die Verlogenheit des US-amerikanischen Kleinstadt­lebens, der dumme Optimismus, das unerfüllte Begehren, das hinter der blankgeputzten Fassade steckt, der falsche Trost. Auch die Verbindung von Pathosformel und Ironie ist darin gesetzt.

In Hollywood jedoch nahm man alles buchstäblich, wie Sirk in einem Interview erzählte: »›All That Heaven Allows‹: Da habe ich den Titel nur so hingestellt wie eine Tasse Tee, nach Brechts Rezept. Den Studioleuten gefiel der Titel, sie glaubten, er solle bedeuten, man könne alles bekommen, was man sich wünscht. Ich meinte ihn genau umgekehrt. Was mich betrifft, ist der Himmel nämlich knauserig.«

Das Locarno Film Festival widmet Douglas Sirk in diesem Jahr eine große Retrospektive. Es kommen gleich mehrere Jubiläen zusammen: Das Festival jährt sich zum 75. Mal, Douglas Sirk, vor 125 Jahren in Hamburg als Hans Detlef Sierck geboren, starb vor 35 Jahren. Mit dem Tessin ist der Emigrant auch biographisch verbunden. Nach »Imitation of Life«, seinem größten kommerziellen Erfolg, kehrten Sirk und seine jüdische Frau Hilde nach Europa zurück und ließen sich in Lugano, unweit von Locarno, nieder.

In Hollywood drehte Sirk an die 30 Filme, darunter Abenteuer­filme, Western, Komödien und Noirs, gut ein Drittel entstand für die Produktions­gesellschaft Universal. Er baute Rock Hudson zum Star auf, so wie zuvor in Deutschland Zarah Leander.

Sirk ist keine Figur, die wiederentdeckt werden muss. Waren die Melodramen in seiner aktiven Schaffenszeit von der Filmkritik noch als weepies, also Rührstücke, verschmäht worden, erfuhr Sirk noch zu Lebzeiten eine Aufwertung als auteur. Zwar gehörte er anders als Nicholas Ray oder Howard Hawks nicht zu den fetischisierten Figuren der Cahiers du cinéma, doch das Interesse, das ihm in den siebziger Jahren zukam – ­insbesondere von der feministischen Filmkritik und von glühenden Anhängern wie Rainer Werner Fassbinder – war umso größer. Seitdem wird sein Werk von Theorie und Praxis gleichermaßen lebendig gehalten. In seiner queeren Sirk-Hommage »Far from Heaven« (2002) etwa erweiterte Todd Haynes die Geschichte über Klassenschranken um die Figuren eines schwulen Ehemannes und eines schwarzen Angestellten.

Sirk ist auch heute nicht auserzählt, seine Filme zeigen sich vielmehr als anschlussfähig auch an ­gegenwärtige Debatten. Durch den übersteuerten Einsatz von Symbolen, Affektfarben und irrationalen Lichtstimmungen machen sie Klas­sismus, Rassismus und patriarchale Verhältnisse wie unter einem Vergrößerungsglas sichtbar. Auch Sirks berühmt gewordenen Rahmungen der Figuren durch Fensterkreuze und Spiegelungen haben als kritische Zeichen Signalwirkung. Ebenso wie die erstickenden Dekors, die er nach dem Vorbild von Heim-und-Garten-Magazinen in artifiziellen Studiowelten nachbaute.

In Sirks Melodramen verbindet sich ein gefühlsbasierter Ausdruckscode mit den antiillusionistischen Mitteln des modernen Theaters. Aber auch die Perspektive auf das US-amerikanische Kleinbürgertum ist ein Komposit. In Daniel Schmids Porträt »Mirage de la vie« (1983) zieht der Schweizer Regisseur Verbindungen zu Sirks Erfahrungen als linker Theatermacher im faschistischen Deutschland. Vermeintliche Freunde stellten sich über Nacht als Nazis heraus, die Ufa, für die er zehn Filme drehte, darunter große Erfolge wie »Schlußakkord« (1936) und »La Habanera« (1937), stellte ihm die Fortsetzung seiner Karriere in Aussicht, wenn er sich von seiner jüdischen Frau scheiden ließe. »Die Nazis, das waren eigentlich alles lauter Kleinbürger. Der Kleinbürger ist der Gefährlichste. Wenn der rasant wird und Großbürger werden will, dann macht er auch das Unmögliche und das Scheußliche unter Umständen«, so Sirk. 1937 flüchtete das Ehepaar über Umwege in die USA.

In Hollywood drehte Sirk an die 30 Filme, darunter Abenteuerfilme, Western, Komödien und Noirs, gut ein Drittel entstand für die Produktionsgesellschaft Universal. Er baute Rock Hudson zum Star auf, so wie zuvor in Deutschland Zarah Leander. 1953 eröffnete »All I Desire« die große Serie von Melodramen über das ­Leben des US-amerikanischen Mittelstands: Eine Frau, verkörpert von Barbara Stanwyck, kehrt in die Kleinstadt zurück, in der sie vor vielen Jahren Mann und Kinder hinter sich ließ, und findet die Verhältnisse unverändert vor. Der Film schenkt ihr ein Happy End, was bei Sirk, einem Anhänger des zirkulären Erzählens, der Gipfel der Knauserigkeit ist: Sie wird an den Ausgangspunkt – die bigotte Gesellschaft – zurückgeschickt.

Eine ähnliche Konstruktion liegt »There’s Always Tomorrow« zugrunde. Fred MacMurray spielt einen Spielzeugfabrikanten, der in den öden Routinen seines Familienlebens erstickt. Als sich in Gestalt von (wieder) Barbara Stanwyck die Möglichkeit für einen Ausbruch auftut, sabotieren die fast schon erwachsenen Kinder das neue Glück. Am Ende beobachten sie voller Selbstzufriedenheit ihre wiedervereinigten Eltern durch die Sprossen des Treppengeländers.

Die Sicht des Filmemachers auf die jüngere Generation ist finster, die Nachkommen wachen mit moralischem Eifer über den Erhalt des Status quo. In »All That Heaven Allows« verliebt sich die wohlhabende Witwe Cary (Jane Wyman) in ihren jungen Gärtner (Rock Hudson), worauf das Paar von ihrem ekelhaften Country-Club-Umfeld mit verächtlichem Geschwätz abgestraft wird. Die Versuche der Frau, den geliebten Mann in ihre bourgeoise Welt einzugemeinden, werden besonders erbittert von den eigenen Kindern ­sabotiert. Cary ist der Inbegriff des split character, eine Figur, die zwischen eigenen Wünschen und gesellschaftlichen Erwartungen zerrissen ist. In dem vielleicht berühmtesten Sirk’schen »Gefängnisbild« wird der Fernseher, den ihr die Kinder als Ersatz für gelebte Erfahrungen vor die Nase stellen, zu einem Spiegel, in dem ihr Abbild fast schon erloschen ist.

Im schrillen Posterstil von »Written on the Wind« (»In den Wind ­geschrieben«, 1956) kündigt sich bereits die Pop Art an. Es ist der wahnsinnigste Film Sirks, entfesselt und gleichzeitig unterkühlt. Das Milieu ist ausnahmsweise nicht kleinbürgerlich und wird von der kaputten Familie eines texanischen Öl-Tycoons bestimmt. Das Herz des Films schlägt für seine beiden völlig verzweifelten Erben, nicht für die verantwortungsvollen Hauptfiguren (Rock Hudson, Lauren Bacall), die versuchen, den Laden in Ordnung zu ­halten.

»Imitation of Life«, die zweite Verfilmung des gleichnamigen Romans von Fannie Hurst und eine im Hollywood-Kino der fünfziger Jahre ungewöhnlich differenzierte Auseinandersetzung mit Rassismus, hätte Sirk allein schon wegen des Titels machen wollen. Nichts im Film ist authentisch, alles ist ein Produkt der gesellschaftlichen Realität. Die Schauspielerin Lora geriert sich als billige Version eines Stars, ihre schwarze Haushälterin führt unter den Zeichen einer Freundschaft das Dasein einer Dienerin, ihre Tochter gibt sich als Weiße aus und flüchtet in die Scheinwelt des Vaudevilles. Auch die ästhe­tische Form ist eine Imitation. In der Verpackung eines überzuckerten Melodrams wird die analytische Kritik eines europäischen Intellektu­ellen serviert.