Der Kolumnist verirrt sich in den Geheimgängen ­seines Rucksacks

Verlustangst im Metaversum

Wenn der neue Rucksack zu viele Taschen hat.
Perfekten Genuss erleben Von

Zeitlebens habe ich gern möglichst alles, was ich besitze, mit mir herumgeführt. Einerseits natürlich, um damit angeben zu können, andererseits für die Momente, in denen ich die Person sein konnte, die einem spontan auftretenden Mangel an Taschentüchern, Feuerzeugen oder USB-Adaptern mit Griff in die Seitentasche triumphal begegnen konnte. Womöglich verfing noch kindlich die law and order-Propaganda der Neunziger, die überall Kriminelle und Einbrecher witterte, sich verquickend andererseits mit dem Prepper-Wahn der vergangenen Jahre, der eine ständige Bevorratung mit jederzeit verfügbaren Artikeln vorsieht.

Aus all diesen mehr oder minder pathologischen Gründen schleppe ich also beinah meine gesamte weltliche Habe mit mir herum. Erst in ­einer Plastiktüte, später in einem Schulrucksack, den ich durchs Studium und diverse Auslandsaufenthalte bis hinein ins Chefbüro eines bundesweit bekannten Drecksblatts trug. Dann, angeleitet von einem mittlerweile verstorbenen Kultbuchautor, nutzte ich eine Weile eine schicke Tragetasche, bis diese sich eines Tages während einer Fahrradfahrt über einer Kreuzung löste und ihren Inhalt über vier Spuren Pendelverkehr ­verteilte. Dann wieder Wechsel zum Rucksack, zu einer Art Herrentäschlein aus Leder, schließlich zu einer etwas aufgeblähten Laptop-Tasche. Ein mir zunächst willkommenes Phänomen: Mit jedem Modellwechsel stieg die durchschnittliche Zahl der Innentaschen, quer durchs Sortiment! Offenbar war ich mit meinem Wahn nicht allein.

Jetzt bin ich bei einem Rucksack der Marke Walker angelangt, den ich im Warenhaus Müller erstanden habe. Dieser hat so viele Innentaschen, Seitenfächer, Reißverschlüsse und Inlays, dass einem schwindlig wird! Ein Blick hinein offenbart eine Kathedrale der Platzersparnis, mit Seitenschiffen, Geheimgängen und bodenlosen Krypten. Zum ersten Mal fühle ich mich überfordert: Ich habe schlicht nicht genug Zeug, um alle diese Taschen zu befüllen! Ein ganzes neues Gefühl der Verlustangst entsteht bei mir: Was ist mein mecum porto noch wert, wenn ich meine Habe auch in der Tasche verlieren kann? Was, wenn ich in einer Krise meinen Seitenschneider nicht finde, weil er im Metaversum meiner Tasche verlorenging? Ich rufe die Taschenhersteller der Welt: Bewahrt das menschliche Maß!