Dem Pogrom in Rostock-Lichtenhagen ging antiziganistische Hetze in der Presse voraus

Das Programm zum Pogrom

Der Gewalt in Rostock-Lichtenhagen gingen Monate der anti­ziganistischen Hetze voran. Flüchtlinge vor Ort waren gezwungen, unter unwürdigen Bedingungen zu leben.

Erst am dritten Tag der Ausschreitungen im August 1992 brachte die Stadt Rostock die Bewohnerinnen und Bewohner der Zentralen Aufnahmestelle für Asylbewerber (ZAst) in Sicherheit. Die Ostsee-Zeitung (OZ) illustrierte dies am 25. August mit dem Foto zweier kopftuchtragender Frauen und ließ ihre Leserinnen und Leser in der Bildunterschrift wissen: »Roma in Rostock. Sie blieben Fremde in einer ihnen fremden Welt. Auswüchse ihrer Lebensart empören die Bürger.« Was diese an­geblich fremde Lebensweise ausmache, die einem Lehrer zufolge das »Krawallsignal« für seine Schüler und Schülerinnen (Norddeutsche Neueste Nachrichten (NNN), 28. August) gewesen sei, hatten die Lokalzeitungen über Monate penibel zusammengetragen.

Im antiziganistischen Wahn ignorierten die erzürnten Anwohnerinnen und Anwohner, dass die Zustände, ­unter denen die Flüchtlinge hausen mussten, nichts anderes als das Ergebnis politischer Entscheidungen waren.

Die zahlreichen Berichte über den angeblich unkontrollierbaren Zustrom von Menschen, faules Herumlungern, Bettelei und Diebstahl, Belästigung, Dreck, Lärm und das Defäkieren in Hauseingängen fügten sich zu einem schauerlichen Märchen zusammen. Am 14. Juli 1992 berichteten die NNN über die Zustände in und vor der ZAst in Lichtenhagen: »Die Benutzung der Toilette ist unüblich. Wer nachts lieber draußen schläft, schmeißt seine Ma­tratze kurzerhand aus dem Fenster.« Das Schlimmste habe der technische Leiter der ZAst beobachtet: »Auf dem Balkon gefangene Möwen drehten sich über einem Lagerfeuer aus ZAst-Möbeln.« Noch am Tag vor den Ausschreitungen, dem 21. August, beschwerte sich eine Leserin der NNN: »Wir leben seit Monaten unter schlimmen hygienischen Bedingungen.« Das sei auch der Auslöser für das Pogrom gewesen, meinte eine Nachbarin des ­sogenannten Sonnenblumenhauses: »Wir wollten nur wieder Ordnung und Sauberkeit haben.« (OZ, 31. August) – Ja, man sei nicht gegen Ausländer, sondern nur für Hygiene.

Im antiziganistischen Wahn ignorierten die erzürnten Anwohnerinnen und Anwohner, dass die Zustände, ­unter denen die Flüchtlinge hausen mussten, nichts anderes als das Ergebnis politischer Entscheidungen waren. Die Behörden verweigerten etlichen in Lichtenhagen Ankommenden das Grundrecht, einen Asylantrag zu stellen. Tagelang mussten sie ohne Geld, Lebensmittel und Zugang zu sanitären Anlagen auf der Wiese vor der ZAst ausharren. Dass kein Bargeld ausgezahlt wurde, begründete Rostocks Innen­senator Peter Magdanz (SPD): »Selbst wenn sie nach Monaten abgeschoben werden, hat es sich für sie gelohnt, wenn sie das Geld sparen und es zu Hause wieder eintauschen.« (OZ, 8. August.) Sogar die Aufstellung mobiler Toiletten lehnte Oberbürgermeister Klaus Kilimann (SPD) ab: Dies hätte nur einen Zustand legalisiert, den man nicht haben wollte.

Antiziganismus war, wie Joachim Bruhn schon 1994 in »Was deutsch ist« schrieb, das Programm zum Pogrom. Ein Anrufer drohte am 19. August in den NNN: »Wenn die Stadt nicht bis Ende der Woche in Lichtenhagen für Ordnung sorgt, dann machen wir das. Und zwar auf unsere Weise.« Zwei Tage später gaben drei Männer in der OZ zu Protokoll, dass sie »mit den Fidschis (in Ostdeutschland damals verbreitete abwertende Bezeichnung für Asiaten, Anm. d. Red.) gut leben könnten«, aber dabei sein wollten, wenn »die rumänischen Roma aufgeklatscht« werden. Einer fügte hinzu: »Und du wirst sehen, die Leute, die hier wohnen, werden aus den Fenstern schauen und Beifall klatschen.«

Er sollte recht behalten. Tausende rotteten sich ab 22. August auf der Wiese vor der ZAst zusammen. Während die einen das Gebäude in Brand setzten, johlte und klatschte die Menge. Die Gewalt galt mittlerweile allen Ausländern. In Lichtenhagen kamen die Deutschen wieder zu sich: Das Pogrom war eine Revolte gegen die undeutsche, den Roma zugeschriebene Gesetzlosigkeit einerseits und gegen die als oktroyiert empfundenen Bonner Gesetze andererseits. Denn in der Anwendung geltender Gesetze glaubten die Autoren und Autorinnen von Leserbriefen die Ursache von Unordnung und Chaos auszumachen. Dass die Angriffe die Politik zum Handeln zwingen sollten, beteuerte eine Rostockerin sogar im Angesicht des brennenden Hauses noch: »Wenn die Herren Politiker jetzt endlich aufwachen und jeder – ob in Bonn, Schwerin oder Rostock – endlich seine verdammten Pflichten entdeckt, die ihm die Wähler auferlegt haben, hat das alles vielleicht einen Sinn gehabt.« (OZ, 26. August.)

Doch weder die Räumung der ZAst noch die sich abzeichnende Verschärfung des Asylrechts konnten der antiziganistischen Mobilmachung auch nur zeitweise Einhalt gebieten. Zwei Wochen nach der Verlegung der ZAst nach Hinrichshagen, am 10. September, sollten der OZ zufolge bereits »72 Hühner, ein alter Ganter, Kaninchen, Katzen, Schafe und sogar Pferde, Fahrräder, Wäsche und 80 Prozent der Obsternte des Dorfes (…) auf dem Schadenskonto stehen, das die Hinrichshäger den ­Romas (sic!) aus der nahegelegenen Anlaufstelle für Asylbewerber (ZAst) zuschreiben.« Zum Schutz hätten die Dorfbewohner und -bewohnerinnen sich gemeinsam eine Dogge als Wachhund gekauft und ihre Zäune erhöht. In der Kleinstadt Goldberg verhinderte die Dorfgemeinschaft samt Bürgermeister und CDU-Bundestagsabgeordneten mit einer Straßenblockade zehn Tage lang die Ankunft der ersten dorthin aus Rostock-Lichtenhagen verlegten Geflüchteten.

Mit dem Ziel, sowohl dem angeblich unkontrollierten Zustrom von »Scheinasylanten« als auch der rassistischen Gewalt beizukommen, einigten sich CDU/CSU, FDP und SPD im Dezember 1992 schließlich auf drastische Asylrechtsverschärfungen. Ein Schritt, der – und da herrschte Einigkeit in Deutschland – durch die Zuwanderung von Roma endgültig notwendig geworden sei, doch ein liberales Asylrecht ohnehin prinzipiell bei »all den Flüchtlingen« zu viele Anreize böte. Daraus machte der damalige Generalsekretär der CDU in Nordrhein-Westfalen und heutige Innenminister des Bundeslands Herbert Reul keinen Hehl. Der Spiegel zitierte ihn mit der Aussage: Wer die Vergiftung des öffentlichen Klimas durch Roma und Sinti nicht wahrhaben wolle, lebe »offenbar auf einem anderen Stern«.