Übergriffe auf alevitische Institutionen in der Türkei

Übergriffe auf alevitische Institutionen

In der Türkei sind alevitische Einrichtungen und ein alevitischer Funktionär attackiert worden. Solche Angriffe haben in dem Land eine lange und blutige Tradition.

Es geschah am 5. August, zu Beginn des islamischen Monats Moharrem, in dem die Aleviten den Tod des Prophetenenkels Hussein in der Schlacht von Kerbala betrauern. Selami Sarıtaş, der Vorsteher des alevitischen Versammlungshauses (Cemevi) im Istanbuler Stadtteil Kartal, fuhr in seinem Auto, als ein Motorrad seltsame Manöver machte und ihm schließlich den Weg versperrte.

Die beiden Männer auf dem Motorrad stiegen ab und gaben vor, nach einer Hausnummer zu fragen. Sarıtaş, der mittlerweile die Scheibe heruntergekurbelt hatte, sagte, dass sie das Haus bereits passiert hätten. In diesem Moment begannen die Männer, ihn zu beschimpfen, und einer schlug mit der Faust auf ihn ein. Gleichzeitig versuchten sie, die Autotür zu öffnen. Sarıtaş drückte auf die Hupe und bekam sein Auto nach einem ­Gerangel frei. Als er später von dem Vorfall berichtete, hatte er zwei blau geschlagene Augen.

Anlass für das Pogrom in Sivas 1993 war vor allem die Anwesenheit des Satirikers Aziz Nesin, der Teile von Salman Rushdies Buch »Die satanischen Verse« ins Türkische übersetzt und veröffentlicht hatte.

Der Angriff auf Sarıtaş, der Zweiter Vorsitzender der Föderation der alevitischen Stiftungen in der Türkei ist, ereignete sich kurz nach Sachbeschädigungen an fünf alevitischen Einrichtungen in Ankara. Zu den Tätern gehörte Ahmet Ozan Karaca. Dieser fuhr von seinem Wohnort İzmir nach Ankara und griff innerhalb von nur 45 Minuten drei alevitische Institutionen an. Karaca gab später eine wirre Erklärung ab; Illuminaten hätten ihm gesagt, er solle die alevitischen Institutionen angreifen. Fremde, böse Mächte waren es also wieder einmal. Kurz nach den Vorfällen in der Türkei wurde auch bei einem alevitischen Kulturverein in Düren eine Scheibe demoliert.

Angriffe auf Aleviten haben in der Türkei eine lange und bittere Tradition. Bereits im Osmanischen Reich wurden sie unterdrückt. Sultan Selim I., genannt Yavuz (der Grausame, 1512–1520), soll mehr als 40 000 alevitische Männer zwischen sieben und 70 Jahren hingerichtet haben. Nach selbigem Sultan ließ der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan eine Brücke über den Bosporus benennen.

Die Blutspur zieht sich bis in die jüngere Vergangenheit. 1978 wurden in Kahramanmaraş mehr als 100 Alevitinnen und Aleviten ermordet. Das Pogrom dauerte eine ganze Woche. Zwei Jahre später ermordeten Mitglieder der Grauen Wölfe in der Umgebung von Çorum 18 Aleviten und Alevitinnen. 1993 belagerte ein aufgehetzter Mob 13 Stunden lang in Sivas ein Hotel. Als es in Flammen aufging, starben 37 Menschen, die Mehrzahl alevitische Intel­lektuelle, die für ein alevitisches Kultur­festival gekommen waren.

Anlass für das Pogrom war vor allem die Anwesenheit des atheistischen ­Satirikers Aziz Nesin, der zuvor Teile von Salman Rushdies Buch »Die satanischen Verse« ins Türkische übersetzt und veröffentlicht hatte. Aber letztlich traf es wieder einmal die alevitische Minderheit. 1995 beschossen im Istanbuler Viertel Gazi Unbekannte Caféhäuser, in denen sich vor allem Aleviten und Alevitinnen aufhielten; sie töteten dabei einen alevitischen Imam. Bei darauf folgenden Demonstrationen und Unruhen tötete die Polizei nach offiziellen Angaben 15 Menschen.

Das Alevitentum ist eine in anatolischen Dörfern und kleineren Städten entstandene religiöse Strömung. Ihre Anhänger sind sich untereinander nicht ganz einig, ob sie Muslime sind oder nicht. Diesen Punkt ganz zu klären, ist nicht so einfach, auch weil es keine einheitliche Lehre der alevitischen Religion gibt. Unstrittig ist, dass es im Alevitentum vieles gibt, das so gar nicht islamisch aussieht, wie die Ablehnung von Strafe und Belohnung im Jenseits. Dabei beschäftigt sich der Koran ausgiebig mit Paradies und Hölle. Auch dass Männer und Frauen in den Cemevis gemeinsam feiern, Musik hören und Alkohol trinken, mag manchen orthodoxen Muslim mit Grauen erfüllen und vielleicht auch mit Neid. Wenn man aber die Alevitinnen und Aleviten aufgrund anderer Züge ihrer Religion als Muslime ansieht, so sind sie eher der Schia zuzuordnen, der die Bevölkerungsmehrheit im Iran und Irak anhängen, während die vom Staat geförderte Mehrheitsreligion der Türkei der sunnitische Islam ist.

Diesmal reagierte der Staat prompt auf die Vorfälle. Innenminister Süleyman Soylu (AKP) rief Sarıtaş persönlich an und versprach Aufklärung. In kurzer Zeit nahm die Polizei neun Verdächtige wegen des Angriffs auf Sarıtaş fest. Von einer Terrororganisation war die Rede. Die Erdoğan nahestehende religiös orientierte Zeitung Yeni Şafak (Neue Morgenröte) schrieb, die Verdächtigen kämen von der Revolutionären Jugend, einer Gruppe der bewaffneten Linken aus dem Umfeld der maoistischen THKP-C. Die Gruppe dementierte das sofort. Es wäre auch das erste Mal, dass Linke Aleviten und Alevitinnen angegriffen hätten.

Nach den Angriffen auf die alevitischen Einrichtungen meldete sich auch ­Präsident Recep Tayyip Erdoğan zu Wort. Er sicherte seinen besonderen Schutz zu, machte Andeutungen über eine mögliche Anerkennung der Cemevis als religiöse Stätten, was ihnen unter anderem steuer­liche Vorteile bringen würde, und besuchte selbst das Hüseyin Gazi Cemevi in Ankara. Dort saß er nun im Halbkreis der Oberen beim Fastenbrechen. Es war das erste Mal in den 20 Jahren seiner Herrschaft, dass Erdoğan eine alevitische Institution betrat, und kurz darauf wurde der nächste Besuch bei einer alevitischen Kulturstätte in Nevşehir angekündigt.

Doch die Wand, vor die sich Erdoğan zum Fastenbrechen (und natürlich auch für ein Foto) niedersetzte, hatte vorher präpariert werden müssen. Ein farbenfrohes Bild des Mystikers Haji Bektash, der so etwas wie ein früher Humanist im 13. Jahrhundert war und großen Einfluss auf das Alevitentum hatte, wurde abgehängt. Dafür prangten dann hinter Erdoğan die arabischen Schriftzüge für Allah, den Propheten Mohammed und seinen Schwiegersohn Ali.

Nachdem Erdoğan abgereist war, wurde das Bild von Haji Bektash wieder an seinen Platz gehängt. Das Foto mit Erdoğan im umgestalteten Cemevi stieß vielen Alevitinnen übel auf. Dilan Kilic vom Vorstand der Alevitischen Gemeinde Deutschland meinte im Gespräch mit der Jungle World, so sehe es in einer alevitischen Gemeinde nicht aus, das ganze sei eine Inszenierung und auch eine »Unsichtbarmachung« des Alevitentums. Die türkische Fö­deration der alevitischen Stiftungen kritisierte Erdoğans Auftritt scharf und leitete den Ausschluss der Leitung des Hüseyin Gazi Cemevi aus dem Verband ein. Kilic hingegen hatte zwar kein Verständnis für Erdoğan, wohl aber für die Gemeinde in Ankara. »Wenn Erdoğan sagt, er kommt, dann kommt er halt und richtet sich das auch so ein«, meinte sie.

In seiner Kolumne in der linken Zeitung Birgün wies Yaşar Aydın darauf hin, dass im kommenden Jahr Wahlen anstehen; spätestens im Juni sollen Parlament und Präsident gewählt werden. Bei einer Inflationsrate von derzeit rund 80 Prozent muss Erdoğan sich für seine Wiederwahl schon anstrengen. Er habe für Wahlkämpfe ein festes Programm, konstatierte Aydın. Dazu gehöre der Begriff »Öffnung«. Mit Variationen je nach Konjunktur könne dieses »Zauberwort« mal die Kurden, mal die Armenier, die Demokratie, die EU, die Menschenrechte und natürlich auch die Aleviten betreffen. Un­verbindlich verpackt als »Freiheit der Religion und der Konfession«, gab es eine erste »Öffnung« für die Alevitinnen und Aleviten bereits bei der Wahl 2002. Ähnliches geschah noch vor mehreren Wahlen und wichtigen Referenden, mit denen Erdoğan seine Macht ausbaute.

Nach all den Wahlen passierte aber regelmäßig das Gleiche, nämlich nichts. Das Alevitentum wird als Religion nicht anerkannt, Kinder aus alevitischen Familien sind weiterhin gezwungen, am sunnitisch-islamischen Religionsunterricht teilzunehmen, die Cemevis werden wie Fabriken besteuert, die Yavuz-Sultan-Selim-Brücke heißt noch immer, wie sie heißt. Erdoğan dürfte von den Alevitinnen und Aleviten wie gewöhnlich nicht allzu viele Stimmen bekommen. Es geht ihm darum, mit den Möglichkeiten des Staats zu locken und einige konservative Angehörige der alevitischen Minderheit dann doch auf seine Seite zu ziehen. Allerdings hat er diesen Trick vielleicht schon etwas zu oft versucht.