Das Russische Reich entstand durch ein Bündnis von Thron und Altar

Alles ist im Fluss

Über die Daugava, einen Strom der im heutigen Lettland in die Ostsee mündet, führte der Handelsweg in Richtung Schwarzes Meer, dessen Erschließung durch das Reich von Kiew als Auftakt der russischen Staatsgründung gilt. Tatsächlich aber entstand das Russische Reich durch ein Bündnis von Thron und Altar.

Wer Superkräfte hat, neigt wohl zur Selbstüberschätzung. Wenn Lāčplēsis einen Helm getragen hätte, wäre es dem Schwarzen Ritter wohl nicht gelungen, ihm beide Ohren abzuhauen. So aber konnte der Bösewicht Lāčplēsis jener übermenschlichen Stärke berauben, die er seiner Mutter, einer Bärin, verdankte. Immerhin erreichte Lāčplēsis noch ein Unentschieden, indem er den Schwarzen Ritter packte und in die Daugava (Düna) warf, wo beide versanken – aber nicht ertranken. Sie kämpfen weiter bis zu einem letzten Showdown, das Lāčplēsis den Sieg und Lettland die Freiheit bringt.

Vielleicht passten Lāčplēsis’ Bärenohren ja nicht unter einen Helm. In einem Epos, in dem Kristallpaläste unter Wasser und Seedämonen mit neun Köpfen vorkommen, spielt Logik ohnehin eine untergeordnete Rolle. Andrejs Pumpurs, der das epische Gedicht »Lāčplēsis« (Der Bärenreißer) 1888 veröffentlichte, wollte ganz bewusst eine Nationalmythologie erschaffen. Neben einer Schriftsprache galt ein solcher Mythos in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts als Voraussetzung dafür, sich als »Volk« zu konstituieren und von den schon etablierten »Völkern« ernst genommen zu werden.

Um eine ideologische Grundlage für den Kampf um staatliche Unabhängigkeit ging es Pumpurs, einem zaristischen Offizier, noch nicht. Obwohl Lettland seit 1795 zum Russischen Reich gehörte, waren die Deutschen sein Hauptfeind. Der Schwarze Ritter stand für die mittelalterlichen Kreuzzügler des Deutschen Ordens, deren Nachkommen die adlige Großgrundbesitzerschicht Lettlands stellten, aber auch höhere Bildung und Publizistik dominierten. Da Zar Nikolaus II. einige dezente Reformen zur ökonomischen Stärkung der lettischsprachigen Bevölkerung verfügt hatte, blieb man loyal.

Eine lettische Schriftsprache gab es da bereits seit fast 200 Jahren. Sie wurde von einem deutschen Geistlichen geprägt, dem lutheranischen Theologen Johann Ernst Glück, der 1694 seine Bibelübersetzung veröffentlichte. Glücks Pflegetochter Marta Skowrońska, in Jakobstadt (heute Jēkabpils in Ostlettland) geborene Tochter eines an der Pest ­verstorbenen Bauern, könne ganz ohne Mythologie als Symbol für einen kurzen Höhepunkt lettischer Machtentfaltung herhalten: Von 1725 bis 1727 ­regierte sie als Katharina I. Russland.

Das lettische Nationalepos »Lāčplēsis« verfasste Andrejs Pum­­purs, ein zaristischer Offizier. Obwohl Lettland seit 1795 zum Russischen Reich gehörte, waren die Deutschen sein Hauptfeind.

Die Geschichte der früh verwaisten Bauerntochter, die als Mätresse aufstieg, zur heimlichen Gemahlin und unentbehrlichen Beraterin Peters I. wurde, ihn auf seinen Feldzügen begleitete und durch diplomatisches Geschick und Bestechung aus der Einkesselung durch eine osmanische Armee rettete, um schließlich als erste Frau den Zarenthron zu besteigen, taugt zweifellos für eine Streaming-Serie. Ihre Biographie ist aber wohl zu eng mit dem Zaren­tum verbunden, als dass sie für den lettischen Nationalismus brauchbar wäre. Sie zeigt jedoch nicht nur, dass ethnische Zugehörigkeit damals noch unbedeutend war – anders als die Konfes­sion, den orthodoxen Glauben musste Marta Skowrońska annehmen –, sondern auch etwas für die damalige Zeit weit Ungewöhnlicheres: Der Zar konnte eine Bauerntochter ehelichen – der heimlichen Heirat 1707 folgte 1712 die offizielle – und diese konnte seine Nachfolgerin werden. Im Frankreich dieser Epoche, wo auch die Mätressen angemessen hohen Standes sein mussten, wäre das undenkbar gewesen.

Peter I. hatte 1722 die Freiheit des Herrschers bei der Wahl seines Nachfolgers festgeschrieben – dann aber keinen benannt. Fürst Alexander Dani­lowitsch Menschikow, der über die Garderegimenter der Hauptstadt gebot, setzte die Inthronisierung Katharinas I. durch. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts kam es immer wieder zu blutigen Machtkämpfen zwischen Fraktionen des Hofadels um die Thronfolge.

Der russische Adel hatte sich, anders als seine Standesgenossen im westlichen Europa, nie eine dauerhafte regionale Hausmacht in den von ihm verwalteten Gebieten verschaffen ­können. Somit gab es eine Macht­vertikale, an deren Spitze die Herrscher und Herrscherinnen im Kreml standen. Eine Stän­de­­vertretung, in der etwa die Kaufleute ihre Interessen geltend machen konnten, existierte nicht. Der ­administrative Zugriff auf das riesige Reich war jedoch schwach, die Verwaltung rudimentär, die Infrastruktur unterentwickelt – und die Geld­nöte der Aristokraten daher noch größer als in anderen Reichen.

Eroberungen galten zumindest in diesen Kreisen als durchaus ehrenhaftes Unterfangen. Mehr Boden, mehr Leibeigene, mehr Einkommen – die Rechnung scheint simpel. Doch die Feldzüge mussten aus den Erträgen einer rückständigen Landwirtschaft finanziert werden, in der noch im 19. Jahrhundert Hakenpflug und Dreifelderwirtschaft üblich war. Unter Peter I. expandierte Russland, doch brachte der Große Nordische Krieg (1700–1721) das Land ungeachtet des Sieges an den Rand des Ruins.

Der russische Präsident Wladimir Putin hat im Juni unter Berufung auf Peter I. (»den Großen«) Anspruch auf Herrschaft über die baltischen Staaten erhoben, wie damals sei es »auch un­ser Los«, so Putin, russische Gebiete »zurückzugewinnen«. Tatsächlich aber ­gewann Russland erst mit diesem Krieg die Kontrolle über das Baltikum. Folgt man der Ansicht, dass sich aus früheren Eroberungen ein Besitzanspruch ergibt, könnte etwa Litauen, im Spätmittelalter eine Großmacht, die Rückgabe weiter Teile Russlands bis etwa 150 Kilometer westlich von Moskau fordern.

Die russische Nationalmythologie beruft sich auf das frühmittelalterliche Kiewer »Reich der Rus« als Wurzel der russischen Staatsbildung – somit gebührt die Herrschaft eigentlich Carl XVI. Gustaf, dem König von Schweden. Es ist mittlerweile unumstritten, dass Waräger, Kriegskaufleute aus dem heutigen Schweden, die führende Rolle bei der Staatsgründung in Kiew spielten. Ihre Fahrten begannen meist im heu­tigen Lettland. Wer die Daugava hinauffährt, kann über relativ kurze Land­wege den Dnipro (Dnjepr) und die Wolga erreichen. Doch war das Unternehmen, durch befestigte Stützpunkte den Handel zwischen der Ostsee und dem Schwarzen Meer zu kontrollieren, ein Joint Venture, an dem neben der Dynastie der skandinavischen Rurikiden auch Finnen, Balten und Slawen teil­hatten; dies belegt die Liste der Gewährsleute eines im Winter 944/945 unterzeichneten Handelsvertrags mit dem Byzantinischen Reich.

Noch unangenehmer für heutige russische Nationalmythologen ist wohl, dass Kiew seinen Aufstieg zum Handelszentrum vor der warägischen Eroberung der Herrschaft von Kaufleuten aus dem jüdischen Reich der Chasaren verdankte. Wie dieses Reich wäre auch das von Kiew nur noch eine historische Randnotiz, wenn Großfürst Wladimir I., Herrscher des Kiewer Rus, nicht eine strategisch kluge und weitreichende Entscheidung getroffen hätte: Er trat 988 zum orthodoxen Christentum über. Als christlicher Herrscher war er nun in Europa bündnisfähig und verfügte über eine Kirche, die, anders als das Papsttum, nicht vom Herrscherhaus unabhängig war.

Es war vor allem die Kirche, die das »Reich der Rus« in der Zeit der mongolischen Invasion und der litauischen, später polnisch-litauischen Expansion zusammenhielt. Zwischen 1240 und 1667 war Kiew nicht unter der Kontrolle russischer Herrscher, das neue Zen­trum wurde das etwa 750 Kilometer nordöstliche gelegene Moskau. Die Kirche unterstützte die Großfürsten, später die Zaren, und lieferte ihnen eine rudimentäre Staatsideologie. Dies verschaffte ihr neben ökonomischen Privilegien den Status einer Reichsinstitu­tion, die sich von der byzantinischen Mutterkirche mehr und mehr löste – und zu einer extrem reaktionären Kraft wurde, die ausländischen Einfluss ri­goros ablehnte.

Das Bündnis von Thron und Altar stellt den eigentlichen Gründungsakt des russischen Reichs dar. Damit war die spätere Geschichte nicht vorgegeben. Pumpurs etwa glaubte noch an eine lettische »Kulturnation« unter zaristischer Herrschaft. Offenbar ohne dass staatliche Zensoren Anstoß nahmen, wurde »Lāčplēsis« 1888 beim Dritten Lettischen Liedfestival aufgeführt. Doch in eben dieser Zeit begann die rigorose Durchsetzung der Russifizierung, der lettische Protonationalismus wurde zum Separatismus und das Epos zu einem wichtigen Referenzpunkt unter anderem im lettischen Unabhängigkeitskrieg 1918–1920. Jährlich wird am 11. November der Lāčplēsis-Tag ge­feiert, der an den Sieg über die Truppen des bis September 1919 von Deutschland unterstützten Warlords Pawel Mi­chailowitsch Bermondt-Awaloff im ­November jenes Jahres erinnert.

Das Epos »Lāčplēsis« ist mit seinem heidnischen Fantasy-Plot ein offenkundig frei erfundener, somit symbolischer und wandelbarer Mythos. Die erstmals 1988 aufgeführte Rockoper »Lāčplēsis« enthält diverse Anspielungen auf die Diktatur der Sowjetbüro­kratie, auch im zweiten Unabhängigkeitskampf spielte der Mythos also eine wichtige Rolle.

Wer aus lettischer Sicht heutzutage der Schwarze Ritter ist, dürfte nicht schwer zu erraten sein. Bei aller gebotenen Vorsicht im Hinblick auf historische Kontinuitäten sind zwei Parallelen zur russischen Expansion, die im 16. Jahrhundert unter Iwan IV., einem der letzten Rurikiden, begann, unübersehbar. Auch die Machtvertikale des nun herrschenden Wladimir kennt keine institutionalisierte Vertretung von Interessengruppen, der Zugriff der Zentralmacht auf das riesige Staatsgebiet ist schwach, die Verwaltung korrupt und ineffektiv, die wirtschaftliche Produk­tivität gering. Und die Kosten der militärischen Aggressionspolitik sind für ein Land, dessen Bruttoinlandsprodukt unter dem Italiens liegt, schwer tragbar.

Diese Politik hat unbeabsichtigt allerdings auch dazu beigetragen, dass ­Polen, die baltischen Staaten und die Ukraine ihre noch Mitte des vorigen Jahrhunderts sehr virulenten Streitigkeiten gänzlich beigelegt und ihre demokratische Staatsform gefestigt haben. Putins Regime bleibt gefährlich, doch besteht die Hoffnung, dass diesmal allein der Schwarze Ritter in den Fluss fällt.