Jonas Mekas drehte in den Siebzigern in seinem Geburtsort in Litauen

Brüchiges Idyll

Der Filmemacher Jonas Mekas reiste in den siebziger Jahren in seinen Geburtsort nach Litauen. Der Film, der dabei entstand, ist eine Meditation über Flucht, Emigration und Erinnerung.

Google Street View ist auch im äußersten Norden Litauens, kurz vor der Grenze zu Lettland, angekommen. Gibt man den Ortsnamen Semeniš­kiai in der Suchmaske der virtuellen Parallelwelt ein, führt einen das Kartensystem auf eine unasphal­tierte Straße, die Regionalstraße 1 307, gesäumt auf der einen Seite von flachen Laubbäumen, zur anderwen von offenen Wiesen mit vereinzelten Wäldchen. Eines der wenigen Häuser, aus grauem Beton mit einem roten Ziegeldach, umgeben von Obstbäumen, befindet sich in Blickweite, gut 30 Meter abseits der Straße. Um sich ihm zu nähern, was Google Street View nicht zulässt, müsste man eine kleine Einfahrt entlanggehen und einen Strommast passieren, auf dessen Spitze sich im Juni 2012, als die Bilder aufgenommen wurden, ein Storchennest befand, gut zu erkennen samt dem unbeeindruckten Storch. Es braucht einige Klicks die Straße entlang, um zur nächsten Häusersiedlung zu gelangen. Der Himmel ist grau, Menschen sind keine zu sehen. Ein Zensus aus dem Jahr 2011 bezifferte die Bevölkerung des Dorfes Semeniškiai auf drei Personen.

1922, als Jonas Mekas in Semeniš­kiai geboren wurde, zählte das Dorf noch ungefähr 20 Familien, erinnerte sich der Avantgarde-Filmemacher, Schriftsteller und Kritiker 2015 in einem Interview, vier Jahre vor seinem Tod. Es gab keinen Strom, kein Radio und kein Fernsehen, das Wasser kam aus einem Brunnen und »schmeckte wie Wein«: »Ich dachte, ich wachse im Paradies auf.« Die Dialektik, die in dieser Aussage zum Ausdruck kommt, gibt einen Einblick in Mekas’ künstlerische Auseinandersetzung mit seiner Herkunft, seiner Fluchtgeschichte und seinem Leben als Emigrant. Denn natürlich handelt es sich um eine idealisierende Projektion auf die Vergangenheit: Sich das Paradies vorstellen kann nur, wer anderes, Schlimmeres kennt, und Glück wäre nicht erfahrbar ohne das, was es nicht ist.

Alle Emigranten, so Jonas Mekas, seien von dem Moment an, da sie den Ort ihrer Herkunft verlassen müssen, auf dem Weg zurück.

Von Semeniškiai aus ist es nicht weit zu Orten, an denen sich solch Schlimmeres ereignete. Litauens ­Geschichte ist geprägt von wechselnden und sich in der kollektiven Erinnerung überlagernden staatlichen Zugehörigkeiten. Historisch eng verbunden mit Polen, fiel Litauen mit dessen dritter Teilung 1795 an Russland, das die polnisch-litauischen Unabhängigkeitsbestrebungen blutig unterdrückte. 1915 besetzten die Deutschen das Land; die Unabhängigkeit 1918 wurde sowohl gegen russische als auch polnische Truppen erkämpft. Im Zweiten Weltkrieg verlor Litauen zunächst Gebiete im Westen an die Deutschen, 1940 dann die Unabhängigkeit durch den Einmarsch der Roten Armee, weil die baltischen Staaten im Hitler-Stalin-Pakt der Sowjetunion zugesprochen worden waren.
Lange Zeit dominierte die Erinnerung an die Sowjetherrschaft und die Deportationen nach Sibirien das litauische Gedächtnis und überla­gerte das Gedenken an den Holocaust. Unweit von Semeniškiai liegt Biržai, wo Mekas zur Schule ging. Dort wurde im Juli und August 1941 die gesamte jüdische Bevölkerung von den Nationalsozialisten und ihren litauischen Kollaborateuren ermordet. Gut 90 Prozent der jüdischen Bevölkerung Litauens haben den Krieg nicht überlebt.

Mekas arbeitete in den vierziger Jahren bei zwei nationalistischen Zeitschriften, von denen eine den Einmarsch der Wehrmacht durchaus begrüßte. Antisemitische oder pro­nationalsozialistische Texte sind von Mekas, der sich sowohl im Widerstand gegen die Sowjets als auch gegen die Nazis engagierte, nicht überliefert. 1944 musste er gemeinsam mit seinem Bruder Adolfas fliehen; auf dem Weg nach Wien wurden die beiden verhaftet und in Elmshorn bei Hamburg interniert. Im März 1945 gelang es ihnen auszubrechen. Bis zum Ende des Kriegs versteckten sie sich auf einem Bauernhof in der Nähe der dänischen Grenze. Die kommenden Jahre verbrachten sie in Lagern für displaced persons in Deutschland. 1949 emigrierten sie in die USA und ließen sich, trotz Stipendien für ein Studium in Chicago, in New York City nieder.

Im August 1971 kehrte Mekas zum ersten Mal seit seiner Flucht nach Litauen zurück. Seine Eindrücke verarbeitete er in dem Film »Reminiscences of a Journey to Lithuania« (1972, »Erinnerungen an eine Reise nach Litauen«). Möglich wurde die Reise in das zu jener Zeit zur Sowjetunion gehörende Litauen nicht zuletzt durch Mekas’ Status als kultureller Dissident. Mekas hatte sich zunächst an traditionellen Hollywood-Filmen versucht, die er aber bald als künstlerisch ungenügend empfand. 1954 hatten die beiden Brüder die Zeitschrift Film Culture gegründet, um die sich schnell die Avantgarde versammelte, die später als »New American Cinema« kanonisiert wurde. Mekas war Mitgründer der in den sechziger Jahren ins Leben gerufenen Film-Makers’ Cooperative, die 1970 als Anthology Film Archives institutionalisiert wurde und eine permanente Niederlassung im East Village fand. Außerdem war er der erste Filmkolumnist der Village Voice. Zum Zeitpunkt seiner Reise nach Litauen war Mekas bereits eine wichtige Figur der New Yorker Kunstszene und hatte mit Andy Warhol, Yoko Ono, Allen Ginsberg, Marie Menken und vielen anderen zusammengearbeitet.

»Erinnerungen an eine Reise nach Litauen« gehört zu Mekas’ sogenannten »Tagebuchfilmen«, in denen sich die filmische Collage von Alltagsszenen mit der Reflexivität des literarischen Tagebuchs verbindet, das erlaubt, aus sich herauszutreten, zu sich oder zu imaginierten Dritten zu sprechen und nicht zuletzt Erinnerungen festzuhalten. Bereits kurz nach seiner Ankunft in New York begann Mekas, täglich Aufnahmen mit einer 16mm-Bolex-Kamera zu machen, die später das Material der Tagebuchfilme wurden. Nicht eine Geschichte, sondern die Abfolge von Eindrücken, Ereignissen und Momenten – meist unterbrochen durch mal deskriptive, mal poetisierende Zwischentitel, die ästhetisch an die Stummfilmära erinnern – sind das prägende Moment dieser, von Mekas erstmals 1968 in »Diaries, Notes and Sketches (also known as Walden)« erprobten, Dokumentarisches mit au­tobiographischer Reflexion verbindenden Form.

»Erinnerungen an eine Reise nach Litauen« ist in drei Teile gegliedert. Der erste hebt mit Aufnahmen aus Mekas’ Umfeld in den Fünfzigern in den Vereinigten Staaten an, im zweiten folgen Bilder seiner Reise nach Litauen. Der dritte Teil dokumentiert die Weiterreise nach Deutschland bis nach Österreich, wobei Mekas auch seine Fluchtgeschichte nachvollzieht. Wie in den anderen Tagebuchfilmen gibt es keine Erzählung im klassischen Sinne. Es wird berichtet, laut nachgedacht, schweigend vorgeführt, abrupt begonnen und neu angesetzt; die manchmal unscharfen, häufig hektischen, gestischen, geradezu zitternden Bilder, die immer wieder auch Mekas selbst zeigen, werden entweder von Musik, Stille oder seiner Stimme begleitet. Wie das auf die Offenheit der Zeit ausgerichtete Tagebuch zwar beginnt, aber keinen Anfang hat, und aufhört, ohne ein Ende zu haben, reiht Mekas Szene an Szene, ohne dass daraus eine geschlossene Handlung entstünde.

Und dennoch hat der Film ein Motiv. Alle Emigranten, so Mekas, seien von dem Moment an, da sie den Ort ihrer Herkunft verlassen müssen, auf dem Weg zurück. »In dem Moment, als wir aufbrachen, begannen wir, nach Hause zu gehen«, sagt er aus dem Off, während Bilder der litauischen Immigrantengemeinde in New York gezeigt werden, »und wir sind immer noch auf dem Weg nach Hause … ich bin immer noch auf der Reise nach Hause.« Seinen Reiz und seine intellektuelle Schärfe bezieht Mekas’ Film aus der Engführung ­dieses Gedankens mit der im zweiten Teil zugleich dokumentierten und inszenierten Rückkehr an den Ort seiner Geburt und seinen Besuch bei den Verwandten und Freunden, die er 1944 zurücklassen musste; inszeniert insofern, als die Reise in der Form der Erinnerung dargestellt wird, die nie einfach Vergangenes gegenwärtig macht, sondern der immer auch ein phantasierendes, zu­weilen gleichsam übertreibendes Moment innewohnt.

Zu Beginn ist diese Erinnerung noch flüchtig. Hektisch und unstet flirren die Bilder vorbei, ohne dass sich ein fester Eindruck einstellen kann. Nach und nach beruhigen und verdichten sie sich allerdings und werden als Idylle erkennbar – das poetische Hauptwerk von Jonas Mekas heißt denn auch »Die Idyllen von Se­meniškiai«. Neben den wenigen Aufnahmen in städtischer Umgebung – unter anderem aus Biržai und Kaunas – dominieren geradezu malerische Felder, Wiesen und Wälder, lachende Menschen und die Freude des Wiedersehens in Semeniškiai. Man sieht Tanz und Gesang, Feiern im Familienkreis, Menschen, die zunächst scheu in Mekas Kamera blicken, vor der sie sich schnell immer unbeschwerter verhalten. Mekas und sein Bruder Adolfas bewegen sich in der Umgebung als Vertraute und Fremdkörper zugleich, zu offensichtlich ist die Differenz zwischen den US-amerikanischen Bohemiens und der bu­kolischen Szenerie. Bild um Bild wird kenntlich, dass auch diese Welt bereits im Verschwinden begriffen ist; die Sensen, die noch im Schuppen stehen, werden schon lange nicht mehr benutzt, doch mit ihnen das Gras zu mähen, »war als Erinnerung echt genug«.

Präsentiert wird dieses Erinnerungsensemble in Form einer Liste: »100 Glimpses from Lithuania« kündigt ein Zwischentitel zu Beginn des zweiten Teils an, alle Szenen sind nummeriert. Bevor diese Liste jedoch ausgezählt ist, endet das Kapitel. Nach Bildern des regnerischen Abreisetags beginnt der dritte Teil mit einer der wenigen durch Zwischentitel angekündigten »Parenthesen«. Die darauf folgenden Aufnahmen zeigen Adolfas Mekas in Elmshorn bei Hamburg im Gras liegend, genau dort, so erfährt man aus dem Off, wo sein Bett in dem Arbeitslager gestanden habe, in dem die beiden Brüder nach ihrer gescheiterten Flucht aus Litauen 1944 interniert wurden. Von den Anliegern, so Jonas Mekas, erinnere sich keiner an das Lager, nur das Gras erinnert sich. In der Fabrik, in die die Brüder während ihrer Haft geschickt wurden, arbeiten nun Gastarbeiter; von Kindern, die Mekas mit seiner Kamera filmt, hört er das Wort »Ausländer«.

Als ob die inszenierte Idylle das, wovon die Parenthese erzählt, nicht vertrüge, endet das Kapitel mit versöhnlichen Bildern aus Österreich, wo auf europäischem Boden Mekas’ künstlerisches Leben nach der Emigration aufscheint: Der Künstler Hermann Nitsch taucht ebenso auf wie der Filmemacher Peter Kubelka und die Kunst- und Filmkritikerin Annette Michelson. Nur die Schlussszene, ein Großbrand eines Markts in Wien, gibt noch einmal einen metaphorischen Hinweis auf die Umstände, wegen derer Mekas Litauen einst ver­lassen musste.

Die mit dem Status als displaced person einhergehende Ortlosigkeit hat Mekas immer wieder als zentrales Moment seines künstlerischen Schaffens geltend gemacht. Ein späterer Tagebuchfilm trug dementsprechend den bezeichnenden Titel »Lost, Lost, Lost« (1976). Vollkommen verloren war Mekas freilich nicht, was ein Blick zurück auf den Anfang des Films anzeigt. Man sieht Mekas mit Freunden in den Catskill Mountains im Bundesstaat New York in den fünfziger Jahren; bei jener Wanderung, so Mekas, habe er zum ersten Mal nicht an die Jahre der Flucht und der Immigration gedacht, sondern das Gefühl gehabt, ankommen zu können und ein Zuhause gefunden zu haben. Die Anziehungskraft der USA als Einwanderungsland verdankt sich nicht zuletzt diesem Versprechen eines Neuanfangs, der ­allerdings immer auch einen Bruch mit der Vergangenheit bedeutet. »­Erinnerungen an eine Reise nach Litauen« handelt von diesem Bruch – und der Erinnerung an die Vergangenheit als Idylle.

»Reminiscences of a Journey to Lithuania« kann auf DVD bei Re:Voir bezogen werden.