Imprint: Auszug aus einer Biographie über den jüdischen Gelehrten Simon Dubnow

Europa am Abgrund

1922 gelingt es dem russisch-jüdischen Historiker Simon Dubnow, die Sowjetunion zu verlassen. Der Emigrant reist über Estland und Riga ins litauische Kaunas und von dort weiter nach Berlin, um sein Hauptwerk »Die Weltgeschichte des jüdischen Volkes« fertigzustellen. Als Hitler an die Macht kommt, flüchtet er am 23. August 1933 in die let­ti­­­sche Hauptstadt Riga, in der seine Familie lebt. Als im Juli 1941 die ­Deutschen Riga besetzen, wird der 81jährige Gelehrte in das Ghetto der Stadt verschleppt. Am 8. Dezember 1941 werden Simon Dubnow und Tausende weiterer Juden aus dem Rigaer Ghetto von deutschen SS-Angehörigen und lettischen Kollaborateuren ermordet. Der hier abgedruckte Auszug aus dem achten Kapitel der Biographie »Simon Dubnow« behandelt die Zeit von Dubnows Ankunft in Estland im April 1922 bis zu seinem ersten Jahr in Berlin, wo er 1923 sorgenvoll den wachsenden Antisemitismus in Deutschland bemerkt.
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Einen Tag nach seiner Abreise am 23. April 1922 aus Petrograd mit dem Ziel Kowno (heute Kaunas) traf Dubnow in Reval (heute Tallinn) ein, der Hauptstadt des unabhängigen Estlands. Hier wurde ihm bewusst, wie bekannt er in den intellektuellen ­jüdischen Kreisen inzwischen war. In Reval traf er mit dem Rechtsanwalt Samson Kalmanowitsch, dem Vorsitzenden des Kulturrates der Juden Estlands, Grigori Eisenstadt, und dem Vertreter der Gesellschaft zur Förderung von Arbeitern und Handwerkern unter den Juden (ORT), M. Feinlejb, zusammen, die ihm beim Umsteigen in den Zug nach Riga behilflich waren. Im Rigaer Bahnhof wurden die Eheleute Dubnow von einer Vielzahl unterschiedlicher jüdischer Vertreter und Persönlichkeiten der Stadt empfangen, darunter die Sejm-Abgeordneten Mordechai Nurok und Jakob Hellmann, der Leiter der Abteilung für jüdische Kultur im Bildungsministe­rium, Jakob Landau, einer der führenden Köpfe der dortigen Zionisten, Herman Wassermann, und eine Reihe anderer Vertreter der Gemeinde. In der Hauptstadt Lettlands unterbrach Simon Markowitsch (Dubnow; Ergänzung d. Red.) seine Reise für eine Woche, in deren Verlauf er die unterschiedlichsten lokalen jüdischen Einrichtungen besuchte. Bei der Ankunft Dubnows war die ­ak­tuelle Sprachendebatte im vollen Gang, so dass er gebeten wurde, ­hierzu öffentlich Stellung zu beziehen. Dubnow hielt seine Rede an ­einem der bekanntesten Orte Rigas: im Großen Festsaal des Schwarzhäupterhauses. Im Wesentlichen wiederholte er seine früheren Aus­führungen zu diesem Thema, nannte Beispiele aus der ­europäischen ­Geschichte, und verteidigte den Sprachenpluralismus.

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