Die Flut vertieft Pakistans Krise

Die große Flut in Pakistan

Eine Flutkatastrophe hat in Pakistan Teile der Infrastruktur zerstört. Eine politische und eine wirtschaftliche Krise kommen hinzu.

Pakistan wird derzeit gleich von einer dreifachen Krise erschüttert. Während die schwerste Flutkatastrophe seit Jahrzehnten das Land heimsucht, halten ein schwere politische Krise und gravierende ökonomische Probleme unvermindert an. Dem Land, das Mitte August den 75. Jahrestag seiner Unabhängigkeit und Staatsgründung begangen hat, stehen weiter schwere Zeiten bevor. Der Gerichtsprozess gegen den ehemaligen Premierminister Imran Khan mit ungewissem Ausgang und auch die in wenigen Monaten anstehenden Wahlen bergen das Potential, die Lage noch zuzuspitzen.

Nach Rekordregenfällen des diesjährigen Monsuns seit Ende Juni ist etwa ein Drittel der Landesfläche überschwemmt, 33 Millionen Menschen sind davon betroffen – rund 15 Prozent der Gesamt­bevölkerung. Etwa sechs Millionen benötigen nach Angaben von Regierung und unabhängigen Stellen unmittelbar Nothilfe: Circa 1,4 Millionen Häuser sind von den Wassermassen entweder komplett weggerissen und zerstört worden oder zumindest so stark beschädigt, dass sie noch länger unbenutzbar sein werden.

Circa 1,4 Millionen Häuser sind von den Wassermassen entweder komplett weggerissen und zerstört worden oder zumindest so stark beschädigt, dass sie noch länger unbenutzbar sein werden.

Mit enormen Anstrengen sind in den zurückliegenden Wochen Menschen aus von den Fluten eingeschlossenen Ortschaften – nicht zuletzt mit Flügen der Katastrophenhilfe leistenden Armee – zumindest vorerst in Sicherheit gebracht worden. Allerdings ist auch die Situation in den meisten Nothilfe­camps angespannt. Fast die größte Sorge von Regierung und Hilfsorganisationen scheint derzeit die Ausbreitung von Krankheiten wie Ruhr und Cholera zu sein, die durch das verschmutzte Wasser sowie generell schlechte hygienische Zustände ver­ursacht werden.

Den bisher erfassten Schaden für die Wirtschaft des Landes hat das pakista­nische Planungsministerium zuletzt auf umgerechnet zehn bis zwölf Milli­arden US-Dollar beziffert. Weite Teile der Infrastruktur sind in Mitleidenschaft gezogen, der Wiederaufbau wird wohl Jahre dauern. Straßen sind auf einer Länge von 3 400 Kilometern zerstört oder stark beschädigt, ebenso unzählige Brücken, Eisenbahnstrecken und auch Schulen. Mit dem langsamen Rückzug der Wassermassen an einigen Stellen ist es möglich, zumindest wichtige unterbrochene Verkehrsverbindungen notdürftig wiederherzustellen. So sollen in der Provinz Belutschistan, wo sich Premierminister Shehbaz Sharif am 14. September ein persönliches Bild der Lage in einem Distrikt machte, rund 90 von 128 zuvor unterbrochenen Straßen wieder passierbar sein. Die Regierung und die Vereinten Nationen hatten gemeinsam einen Hilfsaufruf für unmittelbar benötigte 160 Millionen US-Dollar lanciert, wovon bislang 150 Millionen zugesagt wurden. Die Gelder träfen aber nur schleppend ein, sagte am 14. September Julien Harneis, der zuständige UN-­Koordinator für humanitäre Hilfe in Pakistan.

Die großflächigen Überschwemmungen, nach einer Hitzewelle früher im Jahr ein weiteres Indiz für den in Pakistan deutlich spürbaren Klimawandel, treffen das Land in einer ohnehin schwierigen Zeit. In einem Meinungsbeitrag für die führende Tageszeitung Dawn rechnete der Autor Sakib Sherani am 15. September scharf mit der »an sich selbst interessierten, mit sich selbst beschäftigten« politischen Führungsschicht des Landes ab, die schon vor der großen Flut weite Teile der Bevölkerung abgeschrieben, sich nicht für deren Not interessiert und ihre Energie stattdessen in politische Lagerkämpfe gesteckt habe. Viele Pakistanis hätten in der Flut alles bis auf das nackte Leben verloren. Doch schon davor habe ein Großteil der Bevölkerung kaum noch gewusst, wie er finanziell noch über die Runden kommen soll, schrieb Sherani in seiner Kolumne.

Ablesbar ist das am Preisindex SPI (Social Progress Index), der die Kostenentwicklung für 51 wichtige Produkte des täglichen Bedarfs abbildet. Zu Monatsbeginn kletterte die Inflation in diesem entscheidenden Bereich auf 44,5 Prozent im Vergleich zur entsprechenden Woche des Vorjahrs. Zwiebeln und Tomaten, gerade Erstgenannte essentiell in der südasiatischen Küche, haben sich sogar um 200 Prozent verteuert. Hinzu kommt die Rücknahme von Treibstoffsubventionen unter dem Druck der Vorgaben des Internationalen Währungsfonds (IWF) für einen neuen Hilfskredit über 900 Millionen US-Dollar. Deshalb ist seit den ersten Preissteigerungen im April auch das Tanken für viele kaum noch bezahlbar. Selbst die untere Mittelschicht droht nun in Armut abzurutschen.

Die Spannungen zwischen den politischen Lagern haben sich derweil weiter verschärft. Als ein Novum in der pakistanischen Geschichte war im April nach einem wochenlangen Politkrimi der frühere Premierminister Imran Khan per Misstrauensvotum gestürzt worden. Seither regiert das gegnerische Bündnis unter Führung der Pakistanischen Muslimliga-Nawaz (PML-N) von Ministerpräsident Sharif und der Pakistanischen Volkspartei (PPP) unter Außenminister Bilawal Bhutto Zardari und seinem Vater, dem ehemaligen Präsidenten Asif Ali Zardari, unter Einschluss kleiner Parteien in einer heterogenen Koalition.

Hingegen hat sich Khans Partei Pakistan Tehreek-e-Insaf (PTI) de facto völlig aus dem parlamentarischen Prozess zurückgezogen und verlegt sich ganz auf Straßenproteste. Bei einer ihrer Massenkundgebungen fielen im August jene Sätze, die Khan nun eine Anklage nach dem Antiterrorismusgesetz eingebracht haben. Auslöser war die Verhaftung seines engen Vertrauten Shahbaz Gill, der der Polizei öffentlich vorgeworfen hatte, ihn gefoltert zu haben. Khan, so die Anklage, soll daraufhin in einer Wutrede die zuständige Richterin bedroht haben.

Der ehemalige Premierminister stellt nicht in Abrede, dass scharfe Worte gefallen sind. Er verwahrte sich aber bei der jüngsten Vernehmung durch die Polizei – der erste Termin der Ermittler, bei dem er erschien – zum wiederholten Mal gegen den Vorwurf der Bedrohung einer Vertreterin des Justizwesens. Der Prozess ist für den einstigen Kricketstar, der vielen im Land noch immer als eine Art Volkstribun gilt und eine beträchtliche Anhängerschaft ­besitzt, alles andere als eine Lappalie. Eine Verurteilung hätte das Ende seiner Ambitionen bedeutet, bei der für das kommende Jahr geplanten Wahl auf demokratischem Weg an die Macht zurückzukehren. Zugleich hätte ein Schuldspruch aber auch neue Massenproteste auslösen können. Vielleicht deswegen, so teilten Khans Anwälte mit, habe das zuständige Gericht am Montag die Klage nach dem Antiterror­gesetz fallenlassen. Khan muss sich ­jedoch weiterhin wegen Verächtlich­machung des Gerichts im Fall Shahbaz Gill verantworten.

Khan hatte seine sportliche Karriere 1992 beendet und bald darauf seine politische Laufbahn begonnen. Er kann aber nicht unmittelbar zum »Esta­blishment« der traditionell herrschenden Cliquen und Netzwerke gerechnet werden. Nach seinem Wahlsieg 2018 trat er an, das Land grundlegend zu reformieren. Doch diesem Anspruch ist er trotz einiger Fortschritte und Erfolge im Detail wie bestimmten Sozialprogrammen nicht gerecht geworden. Korruption und Machtmissbrauch haben inzwischen auch Teile der PTI bis auf die höchsten Ebenen erfasst. Das lag nicht zuletzt daran, dass die einstige Protestpartei, die trotz moderat konservativer Ausrichtung stellenweise durchaus mit progressiven Inhalten wie verstärkter Frauenförderung aufwartete, über die Jahre hinweg fragwürdige Bündnisse geschlossen und belastete Politiker anderer Parteien aufgenommen hatte.

Während alteingesessene mächtige Familien wie die von Sharif und Zar­dari ohnehin als korrupt bekannt sind, hat mittlerweile auch das Ansehen Imran Khans spürbar gelitten. Seine verfassungsrechtlich zumindest frag­würdigen Winkelzüge im April – er hatte unter anderem versucht, das Parlament aufzulösen, um die Abstimmung zu verhindern –, die den drohenden Machtverlust noch abwenden sollten, trugen dazu ebenso bei wie sein Agieren seither. Khan und die PTI wettern weiter gegen ihre Kontrahenten und deren angebliche internationale Hintermänner. Damit meint er vor allem die US-Regierung, die er schon im April für seinen Sturz mitverantwortlich gemacht hatte. Khan kritisiert daneben auch das Krisenmanagement der Regierung.