Die russische Söldnergruppe Wagner rekrutiert Häftlinge zum Einsatz in der Ukraine

Fronteinsatz statt Knast

Ein neues Video zeigt, wie ein Mann Häftlinge für den Kriegseinsatz in der Ukraine anwirbt. Es handelt sich wohl um Jewgenij Prigoschin, ein Vertrauter Putins und angeblich Anführer der Söldnergruppe Wagner.

Es sind markige Worte. »Ich nehme euch lebendig mit, aber gebe euch nicht unbedingt lebendig zurück.« Der glatzköpfige Typ, der diese Worte vor einer Männerschar in Häftlingskleidung spricht und sich als »Vertreter« von »Wagner« vorstellt, weist eine frappierende Ähnlichkeit mit Jewgenij Prigoschin auf – bekannt als »Putins Koch« und Unternehmer mit Verbindung zu der unter dem Namen Wagner bekannten Söldnertruppe. Zu sehen und hören ist er in einem fünfminütigen Video, das Mitte vergangener Woche auf mehreren Telegram-Kanälen veröffentlicht wurde. In einer Stellungnahme des Pressediensts von Prigoschins Cateringfirma Concorde hieß es auf An­frage des russischsprachigen privaten Fernsehsenders RTVi, der in Europa, Nordamerika und im Nahen Osten empfangen werden kann, der Mann im ­Video sehe dem Firmeninhaber »ungeheuer ähnlich«. Zudem erkläre die Person in dem Video auf »eingehende Weise dem gemeinen Volk einfache und klare Sachverhalte«.

Wladimir Osetschkin, der Gründer des Projektes Gulagu.net, ist sich absolut sicher, dass es sich bei dem Video um einen Beweis für das handelt, was ihm Angehörige von Strafgefangenen schon seit Monaten zutragen: Prigoschin persönlich werbe zu hohen Haftstrafen verurteilte Männer für seine Söldnertruppe Wagner an, damit diese in der Ukraine kämpfen. Das Video sei, so Osetschkin, in der Strafkolonie IK-6 in der autonomen Republik Mari El offenbar von einem Angestellten des Justizvollzugs aufgenommen worden. Zu dem Werbeauftritt unter freiem Himmel waren vermutlich nur jene zugelassen, die zuvor Interesse an einem Kriegseinsatz geäußert hatten, den Aufnahmen nach zu urteilen rund ein Drittel der insgesamt 600 dort Inhaftierten.

Stillschweigend lauschen sie der Rede. Der Krieg sei dermaßen heftig, dass sogar ein Vergleich mit den beiden Tschetschenien-Kriegen deplatziert sei, erklärt der Mann in dem Video und zählt eine Reihe absoluter No-gos auf: Fahnenflucht, Zurückweichen und Kriegsgefangenschaft, Alkohol und Drogen, Plünderungen und sexuelle Kontakte – mit wem auch immer. Das Mindestalter für einen Vertragsabschluss betrage 22 Jahre, wessen körperliche Verfassung den Tauglichkeitskriterien entspreche, könne sich auch noch mit über 50 Jahren bewerben.

Gesucht würden nur Kandidaten für Sturmtruppen, die an vorderster Front kämpfen – ein halbes Jahr lang ununterbrochen. Wer bis zum Schluss durchhalte, werde begnadigt und dürfe nach Hause oder weiterkämpfen. Denen, die dieses halbe Jahr nicht überleben, winke ein Begräbnis auf der Helden­allee in der jeweiligen Heimatstadt. Wer an Ort und Stelle in letzter Sekunde ­einen Rückzieher mache, werde als Deserteur eingestuft und erschossen. Nach dem Einstellungsgespräch blieben fünf Minuten Zeit, das Angebot anzunehmen oder abzulehnen.

Nach Schätzungen von Olga Romanowa, die von Berlin aus die russische Gefangenenhilfeorganisation Rus Sidjaschtschaja leitet, lassen sich bis zu 20 Prozent der Insassen eines Straflagers anwerben. Mehrere Tausend seien bereits im Einsatz, ihre Überlebenschancen minimal: Die erste Einheit, die bereits am 14. Juli in die Ukraine geschickt worden sei, habe aus 42 Häftlingen bestanden, davon seien nach Kenntnis von Romanowa Mitte September nur noch zwei am Leben gewesen. Vorzugsweise würden sie bei der Minenräumung eingesetzt. Unabhängige Medien berichteten Ende August über die Beerdigung eines Strafgefangenen aus Petrosawodsk, der sich von der Gruppe Wagner rekrutieren ließ.

Romanowa hält das Video für einen geschickten Werbetrick. Zum einen sei Prigoschin darauf mit zwei Orden an der Brust zu sehen, die ihn als »Helden Russlands« ausweisen. Zum anderen sei die Veröffentlichung zu einem Zeitpunkt erfolgt, an dem in der Öffentlichkeit wieder vermehrt eine mögliche allgemeine Mobilmachung ins Spiel gebracht wird. Die russische Regierung bestreitet derartige Absichten zwar, aber die Botschaft an Gefangene sei eindeutig: Wenn es so weit komme, könnten Inhaftierte ohnehin an die Front geschickt werden, dann geht man doch lieber freiwillig und mit der Chance auf Bezahlung.

Offizielle Zahlen über Söldner der Gruppe Wagner, die in der Ukraine kämpfen, existieren nicht. Nach Angaben der ukrainischen Militäraufklärung belaufe sich deren Truppenstärke auf bis zu 5 000, vorzugsweise eingesetzt im Donbass. Prigoschin dürfte mit seiner Werbetaktik auch deshalb punkten, weil sich der Nachschub an Freiwilligen in Grenzen hält. Werbeplakate für einen Armeeeinsatz in der Ukraine hängen in den russischen Regionen zuhauf an vielen öffentlich Orten. Zudem finden immer mehr Aufrufe Verbreitung, Militärhospitäler und den Donbass mit Sachspenden zu unterstützen. Gefragt sind explizit auch Feuerzeuge und Zigaretten.

Vorige Woche teilte die Nachrichtenagentur Reuters mit, Dmitrij Kosak, stellvertretender Leiter der russischen Präsidialverwaltung, habe kurz vor der Invasion oder direkt danach mit der Ukraine ein vorläufiges Abkommen aus­gehandelt. Demnach war die ukrainische Führung im Februar bereit, von einem Nato-Beitritt abzusehen. Drei anonyme Quellen aus dem Umfeld der russischen Regierung hätten dies bestätigt. Doch Präsident Wladimir Putin sei das nicht weit genug gegangen, er habe Krieg gewollt und ihn bekommen. Kosak sei in Ungnade gefallen, berich­teten Medien bereits im Frühjahr. Der Kreml dementiert. Jegliche öffentliche Gespräche über das Thema, wie ein Ausweg aus der Kriegsmisere und ihren Begleiterscheinungen wie internationale Iso­lation und Sanktionen aussehen könnten, sind in Russland nach wie vor tabu.