Aserbaidschan attackiert Armenien erneut

Türkische Bruderhilfe

Zwischen den seit Jahrzehnten verfeindeten ehemaligen Sowjet­republiken Aserbaidschan und Armenien sind erneut heftige Kämpfe ausgebrochen. Im Hintergrund verfolgen auch die Türkei und Russland weiterhin ihre eigenen geopolitischen Interessen in der Region.

»Armenien und Aserbaidschan befinden sich wieder im Krieg, und diesmal wird auch nicht um Bergkarabach gekämpft, sondern auf armenischem Boden.« Yetvart Danzikyan, der Chefredakteur der kleinen armenisch-türkischen Zeitung Agos in Istanbul, klang resigniert. Frustrierend war für den Armenier Danzikyan nicht nur, dass die Kämpfe schwer waren und gleich zu Beginn viele Menschenleben kosteten, sondern auch die Haltung der Türkei. So ziemlich alle türkischen Medien übernahmen die Version Aserbaidschans, wonach es sich bei dessen Angriff auf Stellungen Armeniens in der Nacht vom 12. auf den 13. September um einen Gegenschlag gehandelt habe aufgrund vorheriger armenischer Sabotage.

Der türkische Verteidigungsminister Hulusi Akar rief sofort seinen aserbaidschanischen Kollegen an und versicherte ihm, die Türkei werde immer ihren »Brüdern in Aserbaidschan« zur Seite stehen. Staatspräsident Recep Tay­yip Erdoğan und Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu verurteilten in scharfen Worten die angeblichen Provokationen Armeniens. Die antiarmenische Stimmung in der Türkei vereint viele Lager, das nationalistische, islamistische, kemalistische und viele Strömungen der Linken. Dagegen fühlt man sich Aserbaidschan durch die Verwandtschaft der beiden Sprachen und die weitgehend geglaubte Vorstellung einer gemeinsamen Abstammung verbunden. Wenn Hulusi Akar von »Brüdern« spricht, so verstehen das viele auch biologisch. Zudem haben viele Türkinnen und Türken in der Schule gelernt, dass der Völkermord an den Armenierinnen und Armeniern im Ersten Weltkrieg eine bösartige Lüge der armenischen Dia­spora sei, dass vielmehr Türken von Armeniern ermordet wurden, während diese vor allem an den allgemeinen Kriegsfolgen gestorben seien.

Die antiarmenische Stimmung in der Türkei vereint viele Lager, das nationalistische, islamistische, kemalistische und viele Strömungen der Linken.

Man fragt sich ein wenig, wo die Massen geblieben sind, die 2007 nach der Ermordung des Mitgründers und Herausgebers von Agos, Hrant Dink, zu seiner Beerdigung kamen und einen acht Kilometer langen Demons­tra­tions­zug bildeten. Damals und ei­nige Zeit später sah es so aus, als wolle ein nicht unerheblicher Teil der Intellektuellen eine Aussöhnung mit Arme­nien, inklusive einer Anerkennung des Völkermords im Ersten Weltkrieg. Doch davon ist derzeit nichts zu hören. Die linksli­berale Öffentlichkeit scheint den Konflikt in der Nachbarschaft einfach zu übergehen und arbeitet sich weiterhin nur an Erdoğan ab: Wie viel Geld wendet Erdoğan für den Unterhalt seines Palasts auf? Gegen wie viele Kinder wird wegen Präsidentenbe­leidigung ermittelt? Eine Ausnahme war ein Bericht auf der Website der kleinen linken Zeitung Evrensel über ein Video, das zeigt, wie aser­baidscha­nische Soldaten eine getötete arme­nische Soldatin verstümmeln und dabei lachen. Das Opfer soll die 36jährige dreifache Mutter Anush Apetyan ­gewesen sein.

Die Kämpfe, bei denen mindestens 170 Soldaten getötet wurden, endeten nach zwei Tagen mit einer Waffenruhe. Doch die scheint brüchig zu sein. Russland warf Aserbaidschan vor, trotz Waffenstillstands noch Kampfdrohnen eingesetzt zu haben.

Beim Zerfall der Sowjetunion hatte sich das überwiegend armenisch besiedelte autonome Gebiet Bergkarabach für unabhängig von Aserbaidschan erklärt. In dieser Zeit gab es Vertreibungen und Pogrome auf beiden Seiten. Mit Hilfe Armeniens führte Bergkarabach von 1992 bis 1994 einen Krieg gegen Aserbaidschan, in dem nicht nur das eigene Territorium gehalten, sondern auch weitere Gebiete erobert wurden, aus denen die aserbaidschanische Bevölkerung floh. Zum Gegenschlag war das mittlerweile durch Ölförderung reich gewordene Aserbaidschan erst vor knapp zwei Jahren in der Lage. Kampfdrohnen, die die Türkei und Israel geliefert hatten, spielten dabei eine entscheidende Rolle.Israel unterstützt Aserbaidschan als regionales Gegengewicht zum Iran; das Regime in Teheran fürchtet, dass die Aseri, die größte Minderheit im Iran, Gefallen an der Idee eines Großaserbaidschan finden könnten. Erdoğan schickte außerdem islamistische Söldner aus Syrien. Die armenische Armee war insbesondere gegen die Drohnen nahezu machtlos. Beim Krieg um Bergkarabach 2020 starben circa 6 600 Menschen. Am Schluss vermittelte Russland einen Waffenstillstand. Bergkarabach, das sich seit 2017 Republik Arzach nennt, verlor nicht sein ganzes Territorium, war aber nun wieder ringsum von aserbaidschanischem Gebiet eingeschlossen, mit Ausnahme eines schmalen Verbindungskorridors zu Armenien. Der Waffenstillstand wurde von russischen Soldaten überwacht.

Es ist diese gefährdete Lage von Bergkarabach, die zusammen mit der mili­tärischen Überlegenheit Aserbaidschans einen Angriff Armeniens höchst unwahrscheinlich macht. Nach armenischer Darstellung musste die Republik Arzach beziehungsweise Armenien ­bereits seit März kleinere Grenzverschiebungen durch Aserbaidschan hinnehmen. Der Großangriff im September richtete sich aber nicht gegen Bergkarabach, sondern gegen die Region Sangesur. Dabei handelt es sich um einen Teil des armenischen Territoriums, der bis zur iranischen Grenze reicht, wodurch das zu Aserbaidschan gehörende Gebiet Nachitschewan vom restlichen Staatsgebiet abgeschnitten ist.

Nachitschewan hat auch eine 17 Kilometer lange Grenze zur Türkei. Das Waffenstillstandsabkommen von 2020 sah eine Verbindung zwischen Nachitschewan und dem Rest Aserbaidschans durch Sangesur vor. Obwohl auf armenischem Gebiet gelegen, sollte die Verbindung allein von Russland kontrolliert werden. Ein Durchbruch der Armee Aserbaidschans nach Nachitschewan würde die Präsenz Russlands überflüssig machen und der Türkei eine von Russland und Armenien unabhängige Landverbindung zu den Turkrepubliken Zentralasiens öffnen.

Der Krieg gegen die Ukraine bindet Russlands Armee immer stärker. Gleichzeitig wurde Aserbaidschan als Gaslie­ferant für die EU aufgewertet. Die Türkei liefert zwar der Ukraine Waffen, trägt aber die westlichen Sanktionen gegen Russland nicht mit. Möglicherweise hat der aserbaidschanische Präsident Ilham Alijew den Angriff im Einverständnis mit Erdoğan begonnen. Am 5. September begannen gemeinsame Manöver der türkischen und aserbaidschanischen Luftwaffe; solche waren auch dem Angriff von 2020 vorangegangen. Später räumte Alijew selbst ein, damals den Krieg begonnen zu haben. Auch dass der jüngste Angriff nur Tage vor einem Treffen der Staats- und Regierungschefs der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) mit Sitz in Peking und eines Treffens von Erdoğan und Wladimir Putin erfolgte, passt ins Bild. Die Türkei hat bislang nur einen Beobachterstatus bei der SOZ. Erdoğan stellte nun einen Antrag auf Mitgliedschaft. Der Organisation gehören neben China auch Russland, In­dien und die ehemaligen sowjetischen Republiken in Zentralasien an.

Es sieht so aus, als habe Erdoğan den Konflikt auch benutzt, um sich als Mitspieler in Asien aufzuwerten. Putin mag es mit einem weinenden und einem lachenden Auge sehen. Schließlich hat Armenien trotz seiner Abhängigkeit von Russland in der Uno nicht gegen die Verurteilung des russischen Überfalls gestimmt. Nun wurde es an diese Abhängigkeit drastisch erinnert. Auch ist Putin der Türkei verpflichtet bei der Umgehung der westlichen Sanktionen.