Russischen Kriegsdienstverweigerern wird der Weg in die EU immer weiter erschwert

Grenze zu

Hunderttausende russische Staatsbürger fliehen vor der Teilmobilmachung. Die Bundesregierung hat angekündigt, Kriegsdienstverweigerern Asyl zu gewähren, doch dank der restriktiven Einreisebestimmungen in die EU dürfte es nur in seltenen Fällen dazu kommen.
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Nichts wie raus: Nachdem Russlands Präsident Wladimir Putin am 21. September die Teilmobilmachung verkündet hatte, verließen Hunderttausende russische Staatsbürger fluchtartig das Land. Allein über die Grenze nach Kasachstan reisten innerhalb einer Woche 100 000 Menschen aus, an der russisch-georgischen Grenze staute sich der Verkehr Augenzeugen zufolge bis zu 30 Kilometer lang. Der kasachische Präsident Qassym-Schomart Toqajew sagte, sein Land werde den Flüchtlingen, die vor einer »hoffnungslosen Situation« fliehen, Schutz und Unterstützung bieten.

Ähnliches gilt für die Mongolei. Der ehemalige mongolische Präsident Tsachiagiin Elbegdordsch, der 2017 aus dem Amt schied, sorgt derzeit mit scharfer Kritik am russischen Angriffskrieg für Aufsehen. »Stoppen Sie das sinnlose Töten«, sagte er an den russischen Präsidenten Wladimir Putin gerichtet in einem im Internet veröffentlichten Video, in dem er russische Männer zur Verweigerung des Kriegsdienstes aufrief. Russland missbrauche insbesondere seine ethnischen Minderheiten als »Kanonenfutter«, die Mongolei würde sie aber mit »offenen Armen« empfangen.

Die Einreise in die EU wird hingegen für russische Staatsbürger immer schwieriger. Der Luftverkehr ist seit Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine eingeschränkt, Direktflüge nach Deutschland gibt es keine mehr. Auch die Landgrenzen wurden zuerst von den baltischen Staaten und Polen, vergangene Woche auch von Finnland für Russen mit sogenannten Touristenvisa geschlossen. Dabei haben russische Staatsbürger, die sich der Einberufung entziehen wollen, theoretisch gute Chancen, in der EU einen Schutzstatus zu erhalten. Der Europäische Gerichtshof hatte bereits 2015 und 2020 entschieden, dass Soldaten, die zur Verübung von Kriegsverbrechen gezwungen werden könnten, als Flüchtlinge anerkannt werden müssen. Doch das nützt ihnen nichts, wenn sie es gar nicht erst in die EU schaffen.

Am 30. September veröffentlichte die EU-Kommission neue Richtlinien zur Einreise russischer Bürger in die EU, die strengere Kontrollen bei der Vergabe von Visa und verstärkte Grenzkontrollen vorsehen. Die Mitgliedsstaaten sollen Visa »restriktiv und koordiniert« vergeben und »mit einer strikten Herangehensweise den Einreisegrund bewerten«. Das gelte auch für »russische Bürger, die vor der militärischen Mobilmachung fliehen«. Vertreter der EU-Kommission begründeten die restriktive Visavergabe mit Sicherheitsbedenken und verwiesen dabei auf Fälle von Russen, die in der EU ukrainische Flüchtlinge »provozieren« oder »Propaganda für Putin« machen würden. Aus ähnlichen Gründen fordert die ukrainische Regierung schon länger, Russen die Einreise in die EU zu verwehren.

Zwar verlautbarte die EU-Kommission, sie wolle damit das Asylrecht nicht aushebeln, de facto ist das aber die Konsequenz. Russische Bürger haben nun zwar das Recht, in der EU Asyl zu beantragen, es wird ihnen aber so schwer wie möglich gemacht, den Boden der EU zu betreten, um dieses Recht in Anspruch zu nehmen. Was bleibt, ist das Beantragen eines humanitären Visums – ein oft langwieriger und selten erfolgreicher Prozess. Überdies hängt die Vergabe solcher Visa vom Ermessen der jeweiligen EU-Mitgliedsstaaten ab. Die tschechische Regierung beispielsweise schloss bereits aus, humanitäre Visa an Russen zu vergeben, die vor der Einberufung flüchten wollen.

Im Kontrast dazu stand die Ankündigung von Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) am 23. September, die Bundesregierung wolle russischen Kriegsdienstverweigerern und Deserteuren Schutz gewähren. Abgesehen davon, dass Deutschland rechtlich ohnehin dazu verpflichtet ist, da russischen Soldaten droht, zu Kriegsverbrechen gezwungen zu werden, stellt sich das Problem praktisch nur, wenn die Einreise möglich ist. Am 30. September forderten deshalb Pro Asyl und das Kriegsdienstverweigerungsnetzwerk Connection e. V. sichere Einreisewege für russische Flüchtlinge. Die Bundestagsfraktion der Linkspartei stellte einen entsprechenden Antrag, den der Bundestag jedoch mit großer Mehrheit ablehnte.

Für die EU könnte allerdings ein anderes Motiv noch wichtiger sein. Die russische Gesellschaft bewegt sich spätestens seit Ende Februar auf einen Abgrund zu: Die Repression gegen Oppositionelle hat sich noch einmal verschärft, die internationalen Sanktionen und die Umstellung auf eine Kriegswirtschaft zerrütten die russische Ökonomie, die Folgen der nationalistischen Mobilisierung und der Brutalisierung Hunderttausender Männer durch die Kriegserfahrungen sind bislang überhaupt nicht absehbar. Es sind längst nicht mehr nur liberale Oppositionelle und gern gesehene junge IT-Spezialisten, die aus dem Land fliehen, sondern Hunderttausende Menschen, die nicht in einem Krieg verheizt werden wollen, der nicht der ihre ist.