Ein Bericht aus der umkämpften armenischen Provinz Sjunik

Alijews neue Grenzziehung

In Armenien fürchten viele weitere Angriffe aus Aserbaidschan. In der südlichen Provinz Sjunik ist die Angst vor einem neuen Krieg besonders groß.

Das Artillerieprojektil durchbohrte die Decke, riss zwei Wände ein und landete im Keller. Die Splitter des Geschosses liegen auf dem Fensterbrett, gegenüber einer ikonenhaften Jesus-Malerei, die an der Wand hängt. Arman und Irina Harutjunjan zeigen dem Gast aus Deutschland die Zerstörungen in ihrem Haus. Der nächtliche Angriff durch die aserbaidschanische Armee am 13. September traf sie unvorbereitet. Die darauffolgenden Tage verbrachten sie bei Nachbarn. »Unser Sohn hat geschlafen, als die Einschläge kamen«, sagt Irina Ha­rutjunjan: »Zum Glück blieb er unverletzt.«

Jetzt leben sie wieder in ihrer lädierten Wohnung in Werischen, einem Vorort der Stadt Goris mit knapp 2 000 Einwohnern in Armeniens südlichster Provinz Sjunik. Der Wind zieht ins Wohnzimmer. Die staatlichen Behörden in Armenien hätten ihnen bis heute nicht finanziell geholfen, die Schäden zu beseitigen und die brüchigen Wände instandzusetzen. Trotz Temperaturen unter dem Gefrierpunkt, die hier im Winter regelmäßig zu erwarten sind, sagt Irina Harutjunjan. Sie und ihr Mann tragen Camouflage, wie so viele Armeeangehörige und Mitglieder von Freiwilligenverbänden, die im ganzen Land auf den Straßen und in den Cafés zu sehen sind.

»Ich würde nicht sagen, dass es einen neuen Krieg geben wird, weil der alte von 2020 nie geendet hat«, sagt der Sportlehrer Mais Baghdarsajan.

Im Hintergrund des Hauses der Harutjunjans zeichnen sich die Gebirgsketten des Sangesur-Kamms ab. Noch bis in die sechziger Jahre, als Armenien Teilrepublik der Sowjetunion war, wurden einige der mittelalterlichen Höhlen in den Gesteinsmassiven als Wohnungen genutzt. Die Höhlen dienen heutzutage als beliebte Sehenswürdigkeit für Touristen – Zeugnisse einer Jahrhunderte in die Vergangenheit reichenden Besiedlung dieser Region. Jetzt, so erzählt es Arman Harutjunjan, stehen neun Kilometer weiter nördlich von Werischen die aserbaidschanischen Streitkräfte. Ein neuer Krieg mit neuen Angriffen auf Werischen könnte jederzeit beginnen – nachts, morgens, nächstes Jahr, nächsten Monat, nächste Woche.
Der Frontverlauf im Konflikt um die Region Bergkarabach (auf Armenisch: Ar­zach) hat sich seit dem Ende des 44-Tage-Kriegs im September und Oktober 2020 verschoben. Von der armenisch besiedelten und nach internationalem Recht umstrittenen Republik Arzach blieb nach den aserbaidschanischen Angriffen nur noch ein Rumpfstaat übrig. Die umliegenden Gebiete, die armenische Truppen nach dem ersten Krieg in den neunziger Jahren von der einstigen aserbaidschanischen ­Sowjetrepublik erobert hatten, gewann das Regime von Ilham Alijew im Bündnis mit der Türkei nahezu vollständig zurück.
Die von Russland entsandten sogenannten Friedenstruppen, die den am 9. November 2020 ausgehandelten Waffenstillstand bewahren sollen, versuchen nur sporadisch, die immer wieder aufflammenden Gefechte an der Grenze zwischen beiden Ländern zu beenden. Ebenso wenig unternahmen die russischen Truppen gegen die Zerstörung von Jahrhunderte alten armenischen Kulturgütern wie Klöstern, Kirchen und Friedhöfen.

In den kommenden Monaten soll ein neuer Korridor anstelle des gesperrten Lachin-Korridors Armenien mit Arzach verbinden – und der soll durch das Dorf Kornidzor führen, knapp eine halbe Autostunde von Goris entfernt. In dem knapp 1 000 Einwohner zählenden Ort wachsen Haselnüsse, Aprikosen und Pflaumen, der Weizen ist längst geerntet. Die ausgebombte Karosserie eines sowjetischen Schützenpanzers aus dem ersten Karabach-Krieg ruht mit Dornen überwuchert auf einem Feld. Die armenischen Freiwilligenverbände, die am Militärposten Wache stehen, blicken aus wenigen Hundert Metern Entfernung auf die aserbaidschanische Flagge ihres Gegners. »Ich würde nicht sagen, dass es einen neuen Krieg geben wird, weil der alte von 2020 nie geendet hat«, so Mais Baghdasarjan. Er ist Sportlehrer an der Grundschule in ­Kornidzor und hat eine Volleyballmannschaft trainiert, die dieses Jahr ein Freundschaftsmatch gegen ein Team der russischen Armeeeinheiten spielte; die russische Mannschaft gewann.

Baghdasarjan dient im Freiwilligenbataillon des Dorfs. Tagsüber gehen die Männer ihrer Arbeit nach, abends und abwechselnd an verschiedenen Tagen in der Woche streifen sie ihre Uniformen über, laden Kalaschnikows und beobachten mit Ferngläsern und Nachtsichtgeräten die andere Seite der Grenze. Das Leben im Dorf habe sich stark verändert, so Baghdasarjan, seit klar ist, dass hier die neue Kontaktlinie entlangläuft und der Korridor Richtung Bergkarabach gebaut wird. Viele hier im Ort hätten einen Teil ihrer mit Rindern und Schafen bewirtschafteten Landflächen aufgrund von Militärvorgaben aufgeben müssen. »Konkret bedeutet das: Entweder können sie jetzt weniger Tiere halten oder sie müssen sich weniger flächenintensive Nutztiere anschaffen«, sagt der Lehrer. Die Einnahmen aus Tierwirtschaft und Nutzpflanzen sowie die Selbstversorgung mit Lebensmitteln würden dadurch in Mitleidenschaft gezogen. Auch die Jagd auf Wildschweine und Feldhasen ist für die Dorfbewohner nur noch stark eingeschränkt möglich, viele Wälder in der gebirgigen Landschaft sind jetzt Sperrgebiet.

Baghdasarjan zufolge hat sich seit den jüngsten Angriffen Aserbaidschans die Situation für die Armenier grundlegend verändert. Während es im Krieg von 2020 um die Neudefinition der umstrittenen Grenzen Arzachs gegangen sei, stehe nun die Existenz der Republik Armenien selbst auf dem Spiel: Armenische Soldaten auf dem inter­national anerkannten Staatsterritorium zu ermorden und Wohngegenden zu bombardieren, sei extrem gefährlich für den Frieden. Mehrmals hatten der Diktator Alijew und nationalistische Kräfte des Nachbarlands verlauten lassen, ­Armeniens Region Sjunik stehe aus historischen Gründen Aserbaidschan zu. Eine Eroberung des Gebiets würde Aserbaidschan zudem mit seiner Exklave Nachitschewan verbinden, die eingezwängt zwischen Armenien, dem Iran und der Türkei liegt.

Mais Baghdasarjan sagt, er fühle sich in Kornidzor vorbereitet auf neue Kämpfe. Die Aserbaidschaner seien zwar Feinde – aber dennoch würde er sie immer als Menschen betrachten. »Ich glaube nicht, dass die Aserbaidschaner ihre Kinder sterben sehen wollen«, so Baghdasarjan: »Normale Menschen wollen doch keinen Krieg.«