Hand in Hand durch die Krise
Mit 10,9 Prozent hat die Inflationsrate im vergangenen Monat ein Rekordniveau erreicht; es ist die höchste Teuerung seit 1951. Die rasante Preissteigerung trifft vor allem die unteren Einkommensgruppen. Eine Studie des DIW aus dem Juli hatte errechnet, dass bei der damals unterstellten Inflationsrate von lediglich sieben Prozent das untere Zehntel der Haushalte, gemessen am Nettoeinkommen, relativ gesehen fünfmal so hohe Kaufkrafteinbußen erleidet wie das obere Zehntel. Den Grund für diesen exorbitanten Unterschied liegt der Studie zufolge darin, dass ärmere Haushalte einen deutlich höheren Anteil ihres Einkommens für Güter der Grundversorgung – von Heizen bis Mobilität – ausgeben und gerade die Preise für jene Güter besonders stark gestiegen seien.
Für viele sind die Preissteigerungen eine existentielle Bedrohung. So melden immer mehr der rund 960 Lebensmitteltafeln in Deutschland, dass sie dem Ansturm nicht mehr gewachsen seien. Schon im Juli berichtete der Dachverband Tafel Deutschland, dass sechs von zehn Ausgabestellen seit Jahresbeginn einen Zuwachs der Kundenzahl um mehr als 50 Prozent verzeichneten. Etwa jede fünfte Tafel müsse doppelt so viele Menschen unterstützen wie noch zu Jahresbeginn. Mehr als zwei Millionen Menschen seien inzwischen gezwungen, das Angebot der Tafeln wahrzunehmen – so viele wie noch nie. Ein Drittel der Ausgabestellen habe bereits einen Aufnahmestopp verhängt und könne keine weiteren Bedürftigen mehr versorgen, 62 Prozent mussten die Abgabemengen pro Haushalt reduzieren.
Die marktradikale Rhetorik des schlanken Staats beantworten die Gewerkschaften mit einer verklärenden Staatsgläubigkeit und Identifikation mit dem Staat.
Doch treffen die eklatanten Preissteigerungen, zum Beispiel auch bei Mieten und Nebenkosten, nicht nur die Ärmsten, sondern auch Angestellte und Facharbeiter. Inflationsbedingt sinken die Reallöhne: im ersten Quartal 2022 um 1,8 Prozent, im zweiten Quartal bereits um 4,4 Prozent.
Es wäre zu erwarten, dass die Gewerkschaften gegen die Politik der Bundesregierung tätig werden und der Abwälzung der Krisenkosten auf die Lohnabhängigen mit Protesten entgegentreten. Noch ist es jedoch – trotz aller medialen Warnungen vor einem »heißen Herbst« – ruhig in den Betrieben wie auch auf der Straße. Anhaltende gewerkschaftliche Massenproteste oder gar weitreichende Arbeitsniederlegungen sind nicht in Sicht, und auch deutliche Kritik an der Bundesregierung bleibt aus.
Im Gegenteil, die Gewerkschaften haben für die Krisenpolitik der Bundesregierung vor allem Lob übrig. Das dritte sogenannte Entlastungspaket sei ein »beeindruckendes Paket, das die Koalition in einer Zeit historisch beispielloser Herausforderungen geschnürt hat«, so die DGB-Vorsitzende Yasmin Fahimi, in einer Stellungnahme im September, in der sie »die erkennbare Orientierung am Prinzip sozialer Gerechtigkeit« begrüßte. Sie lobte »den Pragmatismus und den Realismus, der darin zum Ausdruck kommt«. Es sei ein wichtiges Signal, »dass in der akuten Krise der Staat soziale und wirtschaftliche Verantwortung übernimmt«. Die Pressestelle der SPD hätte wohl kaum enthusiastischere Worte für das Regierungshandeln finden können; in der Tat war Fahimi früher SPD-Generalsekretärin.
Auch IG Metall und Verdi begrüßten das Entlastungspaket ausdrücklich. Die IG BCE (Bergbau, Chemie, Energie) identifizierte sich sogar so weit mit den Beschlüssen der Bundesregierung, dass sie sich diese gänzlich zu eigen machte. »Die Bundesregierung hat ein sehr umfangreiches, systematisches und ausgewogenes Entlastungspaket vorgelegt, das die Hauptforderungen der Gewerkschaften enthält«, so der IG-BCE-Vorsitzende Michael Vassiliadis.
Statt Konfrontation suchen die deutschen Gewerkschaften in der Energiekrise auf den Schulterschluss mit Kapital und Staat – im Zweifel auf Kosten der europäischen Nachbarn. »Volle Unterstützung findet die Entscheidung der Koalition, energieintensive Unternehmen mit einer Reihe von konkreten Hilfen durch die Zeit exorbitanter und Existenzen bedrohender Preissteigerungen zu bringen«, heißt es beispielsweise in einer Pressemitteilung des DGB, den europäischen Kritikern eines unsolidarischen deutschen Alleingangs bei der Deckelung von Gaspreisen zum Trotz. Zu solchen Alleingängen bekennen sich die Gewerkschaften des DGB ganz offen, wenn sie schreiben: »Wir unterstützen die Bundesregierung in der Absicht, im Zweifel auf nationaler Ebene eigenverantwortlich zu handeln, sollten die erforderlichen Entscheidungen auf EU-Ebene zu lange auf sich warten lassen oder ausbleiben.«
Diese Positionen knüpfen an die in den deutschen Gewerkschaften vorherrschenden politischen Grundprämissen an. Nicht nur in der Krise konzentrieren sie sich oftmals lieber auf Anrufung des korporatistischen Sozialstaats und sozialpartnerschaftliche Modelle als auf die Organisierung sozialer Gegenmacht. Die marktradikale Rhetorik des schlanken Staats beantworten die Gewerkschaften – ebenso wie viele Linke – mit einer verklärenden Staatsgläubigkeit und Identifikation mit dem Staat. So gilt in weiten Teilen der Gewerkschaftsbewegung der bürgerliche Staat als wichtigster Bündnispartner im Ringen um bessere Arbeits- und Lebensbedingungen.
Dabei klammern sich die Gewerkschaften noch immer an den historischen Klassenkompromiss der untergegangenen Bonner Republik. Der Umstand, dass dieser überkommene Kompromiss spätestens Anfang der nuller Jahre mit den »Agenda«-Reformen der rot-grünen Bundesregierung von Staat und Wirtschaft einseitig aufgekündigt wurde, wird kaum reflektiert. Auch die Erkenntnis, dass der bürgerliche Staat nicht primär die Interessen der Arbeitenden im Sinn hat, sondern die Aufrechterhaltung einer kapitalistischen Ordnung, die auf Ausbeutung basiert, ist weitgehend verlorengegangen.
Da ist es wenig erstaunlich, dass die deutschen Gewerkschaften auch in der derzeitigen Krise vor allem versuchen, Entscheidungsträger in Staat und Wirtschaft mit Appellen für sich zu gewinnen, und sich bereitwillig an runde Tische setzen, sich in Kommissionen und andere korporatistische Gremien einbinden lassen. Dass es auch anders geht, zeigt ein Blick über den deutschen Tellerrand. In Belgien drohen die Gewerkschaften mit einem Generalstreik gegen die Teuerungen, in Frankreich begegnen sie dem Regierungskurs mit landesweiten Streiks und in Großbritannien erschüttern die heftigste Arbeitskämpfe seit Jahrzehnten das Land.
Zuletzt wuchs jedoch auch hierzulande der Druck auf die Gewerkschaftsführung. Immer mehr Gewerkschaftsgliederungen äußern Unmut über die zögerliche Haltung der Gewerkschaften und fordern, mit Kundgebungen und Demonstrationen die Regierungsparteien zu weiter reichenden Maßnahmen zu drängen. Der DGB konnte sich zwar bislang nicht zu einem zentralen Protestaufruf durchringen, es entstehen jedoch immer mehr örtliche Bündnisse, und auch die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) und Verdi rufen inzwischen zu einem bundesweiten Aktionstag gegen die steigenden Energie- und Lebenshaltungskosten auf. Gemeinsam mit dem Paritätischen Wohlfahrtsverband, dem Bund für Umwelt- und Naturschutz, Campact, Attac, Greenpeace und weiteren Bündnispartnern mobilisieren sie für einen »Solidarischen Herbst« und zu mehreren zentralen Kundgebungen im ganzen Bundesgebiet am 22. Oktober.
Doch auch die von gewerkschaftlicher Seite nun regional und überregional organisierten Proteste wirken eher pflichtschuldig. Kaum ein Aufruf kommt ohne anerkennende Worte für das bisherige Vorgehen der Regierung aus, man betont immer wieder, dass sich der Protest nicht gegen deren Arbeit richte, und beschränkt sich auf konstruktive Verbesserungsvorschläge. Kaum eine Rolle spielen weiter reichende Forderungen, obwohl diese eigentlich der eigenen Beschlusslage entsprechen würden. So verabschiedete Verdi auf ihrem vergangenen Bundeskongress unter anderem Anträge zur Vergesellschaftung von Wohnraum, der Rückführung der Energieversorgung in die öffentliche Hand oder der Rekommunalisierung sozialer Infrastruktur.
Eine Führungsrolle ist von den großen Gewerkschaften bei den notwendigen Protesten der kommenden Monate gegen die unsoziale Verteilung der Krisenkosten also nicht zu erwarten, sondern höchstens eine Kanalisierung des wachsenden Unmuts auf einige wenige symbolische Aktionstage und Kundgebungen.