Andreas Isenschmid untersucht in seiner Studie das Jüdische bei Marcel Proust

Das Geschwiegene im Geschriebenen

Andreas Isenschmid gibt in seinem neuen Buch einen souveränen Überblick über die Bedeutung des Jüdischen im Werk und Leben von Marcel Proust.

»Ich glaube, ich war der erste Dreyfusard«, schrieb Marcel Proust rückblickend am 17. Dezember 1919 an den Schriftsteller und Literaturkritiker Paul Souday, der später sein Biograph wurde. Dass die Affäre um den 1894 schuldlos wegen Landesverrats verurteilten und ein Jahr später auf die Teufelsinsel in Französisch-Guayana verbannten jüdischen Hauptmann Alfred Dreyfus, in deren Folge judenfeindliche Ressentiments in der französischen Beamtenschaft, der Justiz und im damaligen Kultur­betrieb offenbar wurden, für sein Schreiben substantiell gewesen sei, hat Proust vielfach betont. Daran allein war nichts Ungewöhnliches. Ob bei Émile Zola, der für Dreyfus mit seinem Pamphlet »J’accuse« Partei ergriff, das 1898 als offener Brief an Félix Faure, den Präsidenten der Französischen Republik, erschien; ob bei Charles Péguy, der die Affäre 1910 in seinem Buch »Notre jeunesse« als prägend für eine ganze Generation Intellektueller beschrieb; oder ob bei Theodor Herzl, der den Prozess gegen Dreyfus als Gerichtsreporter beobachtete und bekannte, diese Erfahrung habe ihn »zum Zionisten gemacht«: Im Leben und Werk fast ­aller Schriftsteller jener Zeit hat die Dreyfus-Affäre Spuren hinterlassen.

Die jüdische ebenso wie die christliche Tradition, die Prousts Eltern zumindest in deren Kindheit noch ungebrochen prägte, war in seinen eigenen Kindheitsjahren bereits zerfallen, säkularisiert und profaniert.

Dass Proust die Affäre als Initial­erfahrung beschrieben hat, ist bemerkenswert, weil die Beziehung zum Judentum sowohl biographisch wie literarisch für ihn subkutan, latent und widersprüchlich war. Andreas Isenschmid skizziert die lebensgeschichtliche Dimension zu Beginn seiner Studie über das Jüdische im Leben und Werk von Proust präzise: »Marcel Proust war der Sohn einer jüdischen Mutter, Jeanne Weil, und eines katholischen Vaters, Adrien Proust. Er war katholisch getauft, wurde katholisch bestattet, hat aber seit seiner Firmierung nie wieder eine Kirche in religiöser Absicht betreten. Er war, wie seine Eltern, nicht gläubig. Seine große und kenntnisreiche Liebe der Kathedralen und der Welt der christlichen Kunst war ausschließlich ästhetisch und nicht konfessi­onell begründet. Eine formelle jüdische Erziehung hat er nicht genossen, seine Kenntnisse der jüdischen Überlieferung waren überschaubar. Eine intensive Beziehung zum Jüdischen ergab sich jedoch aus dem engen Umgang mit seiner ausgedehnten jüdischen Verwandtschaft und aus dem Respekt vor der Tradi­tion, der seine Mutter, wiewohl selbst nicht religiös, treu geblieben war.« Damit begründet er, weshalb seine Studie »Der Elefant im Raum« im Untertitel nicht »Proust und das Judentum«, sondern »Proust und das Jüdische« heißt. Die jüdische ebenso wie die christliche Tradition, die Prousts Eltern zumindest in deren Kindheit noch ungebrochen prägte, war in seinen eigenen Kindheitsjahren bereits zerfallen, säkularisiert und profaniert.

An sie anknüpfen konnte Proust nur mittelbar über die für das Werk auch formsprachlich prägende Liebe zur Mutter, in die das fremd gewordene Judentum als Teil privater und intimer Erfahrungen einging, so, wie die zerbrochene christliche Tradition im ästhetischen Enthusiasmus für die katholischen Kathedralen revoziert wurde. Nur durch diese Vermitteltheit und Unselbstverständlichkeit konnte das Jüdische, das nicht identisch ist mit dem Judentum, für Proust wie für seine Zeitgenossen zum »Elefanten im Raum«, zu einer verborgenen Präsenz werden, die als Ungesagtes mitthematisiert und im Geschriebenen mitgeschwiegen wurde.

Aufschlussreich für das Verständnis von Prousts Werk ist das Verhältnis zum Jüdischen, weil Prousts Begriff der mémoire involontaire auf ein Gedächtnis zielt, das sich im Vorbewussten sedimentiert, das der Vernunft und der Erkenntnis daher nicht unmittelbar zugänglich ist, sondern erschlossen werden muss. Modus dieser Erschließung ist die ästhetische Erfahrung, zu ihren Gegenständen gehört als konstitutiver Bestandteil des Unerschlossenen »das Jüdische«, in dem das Judentum erinnert, aber nicht gegenwärtig wird. Isenschmid geht dieser verborgenen Präsenz bei Proust in drei Kapiteln nach, die biographische und werkgenetische Entwicklungsphasen zusammenführen.

Im ersten Kapitel analysiert er anhand von Prousts Beschäftigung mit dem Dreyfus-Prozess sowie seiner Aneignung der europäischen Aufklärungstradition und deren Reflexion jüdischer Tradition von Spinoza bis zu Kant die Genese von Prousts »jüdischen Gefühlen«, die etwas anderes bezeichnen als die Wiederentdeckung der eigenen Vergangenheit oder die Identifikation mit einer als authentisch empfundenen Identität. Vielmehr entstehen die »jüdischen Gefühle« durch Wiedergewinnung des Jüdischen als etwas fremd Gewordenem, das sich nur literarisch und reflexiv, in sich gebrochen, vergegenwärtigen lässt. Kristallisationspunkte dieses Prozesses sind in Prousts Schreiben die Figur der Mutter und der Topos des mütterlichen Elternhauses, an denen »Fiktionsbrüche« stattfinden, in denen sich, in den Lücken literarischer Fiktion, in die Vergessenheit gesunkene Teile der Lebensgeschichte zeigen. In einer Szene des »Swann«-Buchs aus »À la recherche du temps perdu« heißt es: »Die Wand des Treppenhauses, auf dem ich den Schein seiner (des Vaters) Kerze näher rücken sah, existierte längst nicht mehr.« Isenschmid zeigt, wie hier die Erinnerung an das 1897 abgebrochene Haus von Prousts Onkel in Auteuil, das den jüdischen Familienanteil der Eltern symbolisiert, mit dem »nicht-jüdischen« Haus in Combray, das in der Zeit der Erzählung noch existierte, überblendet wird und so jüdische Erfahrungssplitter der Kindheit anachronistisch in die erzählte Erfahrung eingesprengt werden. Die ästhetische Form des Fiktionsbruchs vermittelt die aus dem Gedächtnis schwindende biographische Erfahrung des Jüdischen mit der Fiktion der Erzählung.

Das zweite Kapitel geht, lebensgeschichtliche und werkimmanente Aspekte verbindend, der Frage nach, wie Proust durch seine von ästhetischer Begeisterung befeuerte Beschäftigung mit dem Katholizismus die Bewusstwerdung der jüdischen Erfahrungsfragmente seiner Kindheit begünstigt hat, bis er sich Anfang der 1890er Jahre als »Autor des Jüdischen« zu begreifen begann: nicht im Sinne der Partizipation an einer Tradition »jüdischen Schreibens«, sondern in dem Sinne, dass das Reflexivwerden der jüdischen wie der katholischen Erfahrungssedimente den Blick auf den Stellenwert des ­Jüdischen in der Gegenwartsgesellschaft und dessen Beziehung zum Frankreich im Übergang vom katholisch geprägten Staat zur Republik prägt. Indem er darstellt, wie diese Bewusstwerdung zu Prousts Zweifeln an Dreyfus’ Schuld beitrug, zeigt Isenschmid, wie literarische und po­litische Reflexion zusammenhängen können, ohne in eins zu fallen. Im abschließenden Teil geht er anhand eines close reading insbesondere des »Swann«-Buchs Prousts Ver­fahren der multiplen Erzählerstimmen nach, in dem sich – man fühlt sich an Michail Bachtins Begriff der »Dialogizität« erinnert – nicht nur durch Verteilung der Erzähleridentifikation auf verschiedene Figuren, sondern innerhalb ein und derselben Figur verschiedene (jüdische, christliche, väterliche, mütterliche, kindliche, erwachsene) Erfahrungsräume überlagern.

Isenschmid hat nicht, wie es heute üblich ist, ein mit zahllosen Fuß­noten und Dokumenten überfrachtetes Buch geschrieben, sondern eine Summe aus seiner früheren Beschäftigung mit Proust gezogen, die Erkenntnisse seiner Proust-Biographie durch popularisierende Verknappung schärft und bündelt. Auch wer Proust noch nicht gelesen hat, was ­gerüchteweise auf die meisten zutrifft, die erzählen, sie würden im Urlaub mal wieder Proust lesen, erhält durch ihn eine erste Orientierung und einen Anreiz, sich wirklich dem Original zu widmen.

Andreas Isenschmid: Der Elefant im Raum. Proust und das Jüdische. Hanser-Verlag, München 2022, 240 Seiten, 26 Euro