»Crimes of the Future«, der neue Film von David Cronenberg

Faszinierend anachronistisch

David Cronenberg wendet sich mit »Crimes of the Future« wieder dem von ihm mitbegründeten Genre des Body-Horror zu. Dabei ist ihm ein zugleich aus der Zeit gefallener und aktueller Film gelungen.

Es ist ein eigenartiger Film, der wirkt wie aus der Zeit gefallen, einer, der genau so in den neunziger Jahren hätte gedreht werden können. Es wirkt, als wäre er einfach über 20 Jahre zu spät ins Kino gekommen und zu einer Zeit entstanden, als die digitale Bildbearbeitung noch in den Kin­derschuhen steckte. Zu einer Zeit also, als Filmemacher für die Realisierung ihrer Science-Fiction-Visionen noch beinahe gänzlich auf die Fi­nesse des Szenenbilds und der Tricktechnik angewiesen waren.

Tatsächlich schrieb David Cronenberg das Drehbuch zu seinem neuen Film »Crimes of the Future« bereits 1998. In jenem Jahr war der kanadische Regisseur, der mit Filmen wie »Videodrome« (1983) zu den Vorreitern des Body-Horrors gehörte, längst nicht mehr nur einem Nischenpub­likum bekannt. Auf den internationalen Festivalbühnen in Cannes oder Berlin wurde er für seine meisterhaft verstörenden Dystopien gefeiert und mit den großen Jurypreisen ausgezeichnet. Cronenberg versuchte Anfang des neuen Jahrtausends, das Drehbuch zu verfilmen, kam jedoch über das Stadium der Vorproduktion nicht hinaus und verlor bald das Interesse am Stoff. Doch sein langjähriger Produzent Robert Lantos konnte ihn knapp 20 Jahre später, nachdem er sich lange schon vom Horrorfilm ab- und einer kunstvollen Melange aus Thriller und Drama – »Eastern Promises« (2007), »A Dangerous Method« (2011), »Maps to the Stars« (2014) – zugewendet hatte, davon überzeugen, es doch nochmal zu probieren.

Cronenberg lässt sich Zeit, seiner so rätselhaften wie beunruhigenden Welt eine klare narrative Form zu geben.

So gesehen kehrt Cronenberg hier zu seinen Wurzeln zurück. Am Skript nahm er eigenen Angaben zufolge keine Änderungen mehr vor. Dadurch wirkt nicht nur die ästhetische Form des Films faszinierend anachronistisch und abseitig, sondern auch seine Perspektive auf eine Zukunft, die die Frage verhandelt, welche Richtung die menschliche Entwicklung einschlagen wird.

Cronenberg erzählt in »Crimes of the Future« von einer dystopischen Welt, in der die meisten Menschen aufgrund eines »beschleunigten Evolutionssyndroms« das Schmerzempfinden nahezu gänzlich ver­loren haben. Manche von ihnen weisen zudem sonderbare Mutationen auf. Eine davon ist das Wuchern tumorartiger Organe. Saul Tenser (Viggo Mortensen), ein mondäner und völlig in Schwarz gehüllter Perfomance-Star, nutzt diese anatomische Anomalie für die Kunst: In gefeierten Underground-Shows lässt er sich die immer wieder neu wachsenden Fleischklumpen von seiner Partnerin Caprice (Léa Seydoux) herausope­rieren. Auf ihre Shows wird bald die Behörde aufmerksam, die sich um die Registrierung neuer Organe kümmert. So entrückt und absurd hier neue Formen von Kunst entworfen werden, sind auch Cronenbergs Einfälle, mit denen er seiner Faszination für die Verschränkung von Körper und Technik Ausdruck verleiht.

Die neuen Organe setzen Sauls Verdauungssystem so sehr zu, dass er auf einen aus knochenähnlichem Material gebauten Hochstuhl angewiesen ist, der ihm mit mechanischen Bewegungen beim Verdauen seines Essen hilft. Nachts schläft er in einem biosynthetischen Bett, das einem Insektenpanzer ähnelt und an ebenso insektenartigen Strängen von der Decke herabhängt. Während seiner Performances liegt er in einer Art Sarkophag, der mit Skalpiermesser führenden Roboterarmen ausgestattet ist und mittels einer gehirnförmigen Fernbedingung gesteuert wird. Ein euphorisiertes Boheme-­Publikum umringt ihn dabei und hält das verstörende Spektakel mit Kameras und Camcordern fest.

Nicht minder beeindruckend ist das Setting, das Cronenberg für seinen Film gewählt hat. Gedreht wurde komplett in Griechenland und dort unter anderem in Athen. Heruntergekommene Industriehallen, in denen die Performances stattfinden, schäbige Büroräume, die als Sitz der Registrierungsbehörde dienen, und verwinkelte Gassen in braun-sandigem Farbton verstärken den Eindruck einer fremdartigen, postapokalyptischen Welt, in der eine nicht näher genannte ökologische Kata­strophe vorgefallen sein muss.

In Cronenbergs Horrorfilmen ging es immer schon um die Technik als Verlängerung des Triebs. So ist es in »Videodrome« die grässliche Gewaltpornographie eines Piratensenders, die bei den Betrachtern einen Gehirntumor auslöst und zu fürchterlichen Halluzinationen führt. In »eXistenZ« (1999) sorgt eine biosynthetische Konsole dafür, dass die Spieler eines rätselhaften Computerspiels nicht mehr zwischen realer und virtueller Welt unterscheiden können. »Crimes of the Future« ­ähnelt aber vor allem seinem 1996 erschienen Film »Crash«, der auf dem gleichnamigen Roman von J. G. Ballard basiert und von einer Gruppe Menschen erzählt, die sich ihre sexuelle Befriedigung beim Anblick von Autounfällen mit Schwerver­letzten holen. Fleischliche Begierde und die Lust an deformiertem Metall verschmelzen hier miteinander. Der Ton beider Filme ist so kühl und düster wie sinnlich. Während jedoch in »Crash« die psychologischen Gründe für den Unfallfetisch seiner Protagonisten nebulös bleiben, ­deutet Cronenberg jetzt Ursachen zumindest an. Der Verlust des Schmerzempfindens hat die sexu­elle Triebbefriedigung transformiert.

So kommt es in einer Szene zu ­einer skurrilen Neudefinition von Oralsex. Caprice öffnet in sexueller Erregung einen operativ angebrachten Reißverschluss an Sauls Bauch, der einen sofortigen Zugriff auf seine Organe ermöglicht, und schleckt ­dabei mit der Zunge genüsslich in das Innere seines Bauches. Der Film nimmt sich dabei auch nicht allzu ernst. Als Saul von einer Angestellten der Organ-Registrierungsbehörde, eine überdreht spielende Kristen Stewart, sexuell bedrängt wird, antwortet er leicht gehemmt, dass er nicht gerade gut sei im »alten Sex«. An ­anderer Stelle beobachtet er in einer dunklen Gasse eine sanft stöhnende Frau, die sich von einem Mann mit einem Messer ein Loch in den Oberschenkel pulen lässt. Sexuelle Befriedigung ist hier nur noch in der fleischlichen Bearbeitung des Körpers zu finden. So heißt es einmal treffend nach einer von Sauls Performances: »Chirurgie ist der neue Sex.«

Cronenberg lässt sich Zeit, seiner so rätselhaften wie beunruhigenden Welt eine klare narrative Form zu ­geben. Es stellt sich heraus, dass Saul Tenser heimlich für einen Ermittler der Sittenpolizei (Welket Bungué) arbeitet und ihm regelmäßig über mögliche Verstöße berichtet. Er wird beauftragt, Mitglieder einer radikalen Untergrundorganisation aufzuspüren, die durch eine Modifikation ihres Verdauungstrakts in der Lage sind, Plastik zu essen. In illegalen Produktionsstätten stellen sie synthe­tische Kraftriegel her, die ihre einzige Nahrung darstellen und für alle anderen todgiftig sind.

An dieser Stelle bekommt der vor allem auf Cronenbergs visuelle Obsessionen ausgelegte Film zumindest einen kleinen gesellschaftskritischen Impetus, wenn der Anführer der Organisation Saul von seinen Plänen erzählt: Es sei an der Zeit, »die menschliche Evolution mit der menschlichen Technologie zu synchronisieren. Wir müssen uns von Industrieabfällen ernähren. Das ist unsere Bestimmung.« Bedenkt man, dass sich Mikroplastik mittlerweile nicht nur in der Arktis, sondern auch in der Muttermilch stillender Frauen nachweisen lässt, besitzt diese vor über 20 Jahren ersonnene Zukunftsvision eine befremdliche Aktualität.

Crimes of the Future (Kanada / Griechenland 2022) Buch und Regie: David Cronenberg. Darsteller: Viggo Mortensen, Léa Seydoux, Kristen Stewart. Filmstart: 10. November