Gespräch mit der Politologin Gayl Talshir über die politische Rechtsentwicklung in Israel

»Netanyahu hat es auf die Gewaltenteilung abgesehen«

Die Likud-Partei hat sich unter Benjamin Netanyahu radikalisiert und ist rechter geworden. Politikwissenschaftlerin Gayil Tashir sieht nach der Wahl die Gewaltenteilung und die Bürgerrechte gefährdet.
Interview Von

Der derzeitige Oppositionsführer Benjamin Netanyahu gilt als Ge­winner der Parlamentswahl vom 1. November. Er wird vermutlich eine Regierungskoalition bilden, der neben seiner Partei, dem Likud, auch das rechtsextreme Parteienbündnis HaTzionut HaDatit (Der ­Religiöse Zionismus) sowie die orthodoxen Parteien Shas und Yahadut HaTora (Vereinigtes Tora-Judentum) angehören werden. Es geht die Befürchtung um, dass ein solches Regierungsbündnis Rechtsstaatlichkeit und Bürgerrechte in Israel gefährden könnte. Teilen Sie diese Befürchtung?

Ja, Netanyahu und seine designierten Koalitionspartner haben es auf die Gewaltenteilung abgesehen. Uns stehen Angriffe auf all jene Institutionen bevor, die politische Macht kontrollieren und beschränken: Justiz, Medien und auch die öffentliche Verwaltung.

Was meine Sie konkret?

Im Wahlkampf haben sich die Parteien des rechtsreligiösen Blocks immer wieder für einen sogenannten Überwindungsparagraphen ausgesprochen. Dieser würde dem Parlament die Möglichkeit einräumen, Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs aufzuheben. Ich gehe davon aus, dass dieses Gesetz innerhalb der nächsten drei Wochen verabschiedet werden wird. Damit wird ein wichtiges Mittel rechtsstaatlicher Kontrolle aus den Angeln gehoben werden.

»70 Prozent der jungen Israelis zwischen 18 und 24 Jahren verstehen sich heute als rechts.«

Geht das denn so einfach?

Leider ja. Israel hat keine Verfassung, die den Spielraum des Parlaments einschränkt. Die sogenannten Grundgesetze können vom israelischen Parlament mit einfacher Mehrheit beliebig annulliert, geändert oder neu verabschiedet werden.

Sehen Sie noch andere Gefahren für den Rechtsstaat?

Es wird über eine Reform des Verfahrens zur Berufung von Richtern debattiert. Sollte es dazu kommen, könnten Regierungspolitiker allein bestimmen, wer an Israels Gerichten Urteile spricht. Auch über die Judikative hinaus wird es zu einer Politisierung bei der Besetzung von Stellen im öffentlichen Dienst kommen, so dass in Zukunft immer häufiger politische Gesinnung und persönliche Loyalitäten anstatt professioneller Eignung darüber entscheiden werden, wer eine Stelle bekommt und administrative Entscheidungen treffen kann. Gleichzeitig ist zu befürchten, dass die neue Regierung versuchen wird, stärkeren Einfluss auf ­Israels unabhängige Medien zu gewinnen. Bei einem der Anklagepunkte im laufenden Korruptionsverfahren gegen Netanyahu geht es ja um den Vorwurf, dass er versucht habe, sich positive Berichterstattung mit politischen Gefälligkeiten für bestimmte Medienkonzerne zu erkaufen.

Der religiöse Zionismus hat seinen Stimmenanteil im Vergleich zu den Wahlen von 2021 mehr als verdoppelt. Mit 14 Abgeordneten stellt es jetzt die drittstärkste Kraft im isra­elischen Parlament und gilt somit als entscheidender Mehrheitsbeschaffer Netanyahus. Wofür steht diese Allianz?

Wir reden hier von einem Bündnis aus drei Parteien, die für eine Mischung aus ultranationalistischen, rassistischen und religiös-fundamentalistischen ­Positionen stehen. Dazu gehören auch homophobe und frauenfeindliche Standpunkte. Dabei vertritt das Parteienbündnis keinesfalls den Mainstream der religiös-zionistischen Siedlerbewegung, deren ­Label es für sich vereinnahmt hat. Repräsentiert wird es vor allem von Bezalel Smotrich, dem Vorsitzenden der Partei Der religiöse Zionismus (unter deren Namen auch das Bündnis auftritt; offiziell HaIchud HaLeumi–Tkuma, Nationale Einheit und Wiedergeburt, Anm. d. Red.), und Itamar Ben-Gvir von der Partei Otzma Yehudit (Jüdische Stärke).(Die dritte beteiligte Partei heißt Noam, Milde, Anm. d. Red.)

Ben-Gvir wurde 2007 wegen anti­arabischer Hetze und Unterstützung einer rechten terroristischen Vereinigung verurteilt. Während des Gaza-Kriegs im Frühjahr 2021 lieferten sich seine Anhänger in Israels jüdisch-ara­bischen Städten Straßenschlachten mit Arabern. Früher skandierte Ben-Gvir »Tod den Arabern«. Heute fordert er stattdessen den Einsatz von scharfer Munition gegen palästinensische Randalierer und die Todesstrafe für Terroristen. Doch innerhalb seiner Bewegung werden Araber oft pauschal mit Terroristen gleichgesetzt. Auf der anderen Seite leugnet Ben-Gvir, dass es sich bei Gewaltakten nationalistischer Juden um Terror handele. Zum Programm des Parteienbündnisses gehört auch, dass es die Westbank annektieren und die dort lebenden Palästinenser zur Auswanderung bewegen möchte. Die Bürgerrechte arabischer Israelis sollen von deren Loyalität zum jüdischen Staat abhängig gemacht werden.

Ben-Gvir sagte vor der Wahl, er wolle Minister für öffentliche Sicherheit werden. Während des Wahlkampfes hat er ein auch rückwirkendes ­Immunitätsgesetz für Ministerpräsidenten vorgeschlagen. Das würde Benjamin Netanyahu, gegen den mehrere Gerichtsverfahren wegen Korruption laufen, vor strafrecht­licher Verfolgung schützen. Sind es derart opportunistische macht­politische Überlegungen, die Netan­yahu dazu bewegen, mit den Rechtspopulisten zu koalieren? Oder ist diese Entscheidung auch ideologisch motiviert?

Beides. Natürlich geht es hier auch um Machtinteressen. Und natürlich will Netanyahu Immunität vor strafrechtlicher Verfolgung. Aber es gibt durchaus auch weltanschauliche Berührungspunkte zwischen dem Likud und den anderen Parteien des rechts-religiösen Blocks.

Der Likud, dem Netanyahu vorsteht, war doch eigentlich immer eine ­liberal-konservative Volkspartei?

Das stimmt. Aber Netanyahu hat den Likud von einer konservativ-liberalen Partei zu einer antiliberalen Partei umgebaut. Das entspricht einer Entwicklung, die wir auch in anderen westlichen Ländern beobachten können. ­Gemeinsam mit Politikern wie Donald Trump in den USA und Viktor Orbán in Ungarn gehört Netanyahu zu den Protagonisten eines globalen Trends, der darin besteht, dass sich immer häufiger demokratisch und rechtsstaatlich orientierte konservative Volksparteien zu Verfechtern einer neorechtspopulistischen Agenda wandeln. In Italien ist beispielsweise Giorgia Melonis rechts­populistische Partei Fratelli d’Italia bei den letzten Parlamentswahlen stärkste Kraft geworden. In den USA kämpfen rechtspopulistische Trump-Anhänger und traditionelle Konservative um die Hegemonie in der Republikanischen Partei.

In Israel sind viele der Meinung, dass rechtsextreme und religiöse Kräften den Likud vor sich hertreiben, dass er Teile ihres Programms übernimmt, um keine Wähler an sie zu verlieren.

Auch das ist richtig. Die rechtsextremen Kräfte wirken in die Gesellschaft hinein und heizen die Stimmung an der Basis auf. Daraus entstehen politische Erwartungen, denen dann auch der Likud gerecht werden muss, wenn er keine Wähler an den rechten Rand verlieren möchte. Allerdings hat Netanyahu einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet, dass die Rechtsextremen so stark geworden sind, weil er ihnen Legitimität verliehen und Teile ihres Diskurses übernommen hat.

Nun, da diese gesellschaftlichen Kräfte einmal entfesselt sind, lässt sich dieser Vorgang nicht mehr zurückdrehen. Der Geist ist aus der Flasche. Das heißt, selbst wenn Netanyahu wollte, könnte er seinen Likud jetzt nicht mehr auf eine moderatere Linie zurückführen, ohne viele seiner Unterstützer zu verlieren. Die Rechte in Israel wurde stark, weil sich das moderate Lager ebenfalls radikalisiert hat. Der Rechtsruck entspricht einem gesellschaftlichen Trend. 70 Prozent der jungen Israelis zwischen 18 und 24 Jahren verstehen sich heute als rechts.

Worin sehen Sie die Gründe für diese Entwicklung?

Netanyahu betreibt seit Jahren eine Delegitimierungskampagne gegen Linke und Liberale, indem er sie als unpatriotische Araberfreunde und Landesverräter beschimpft. Israels arabische Bürger werden damit zu nationalen Feinden und Linke zu ihren Handlagern stilisiert. In dieser chauvinistisch-ethnoreligiösen Gesellschaftsdefinition manifestiert sich der Wandel des Likud von einer liberal-konservativen zu einer nationalkonservativen populistischen Partei. Gleichzeitig spielt die sozioökonomische Struktur der israelischen Gesellschaft eine Rolle. Die Mehrheit der Israelis hat einen niedrigen sozioökonomischen Status und gehört damit einer Gesellschaftsschicht an, die prinzipiell für rechtspopulistische Positionen empfänglicher ist.

Glauben Sie, dass arabische Israelis jetzt ihre Bürgerrechte verlieren werden?

So weit würde ich nicht gehen. Kurz- oder mittelfristig halte ich das nicht für wahrscheinlich. Sollte sich der derzeitige Trend aber fortsetzen und die israelische Gesellschaft weiter nach rechts driften und sich radikalisieren, wäre das langfristig aber nicht auszuschließen.

Gayil Talshir

Gayil Talshir

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Hebräische Universität, Jerusalem

Gayil Talshir ist Politikwissenschaftlerin und Dozentin an der Hebräischen Universität von Jerusalem. Sie forscht zu Entwicklung und Einfluss politischer Ideologien. Ihre Doktorarbeit verfasste sie über die Frage, ob sich die Programmatik der deutschen Grünen an den Grundsätzen traditioneller linker Weltanschauung ­orientiert. Im kommenden Jahr erscheint ihr Buch »The Netanyahu Era: Ideological Transformations and Structural Changes« über die Entwicklung antiliberaler Positionen in der israelischen Gesellschaft.