Für seinen neuen Film „Bardo“ kehrt Alejandro G. Iñárritu nach Mexiko zurück

Brennende Scheinwerfer

Alejandro G. Iñárritus neuer Film »Bardo, die erfundene Chronik einer Handvoll Wahrheiten« erzählt die autobiographisch geprägte Geschichte eines Karrierejournalisten. Der Film strotzt nur so vor verrückten Einfällen, tiefen Einsichten und optischen Spielereien und erinnert damit an Meisterwerke der Filmgeschichte.

Der Schatten eines Mannes ragt in eine Wüstenlandschaft. Langsam, dann schneller bewegt er sich vorwärts über spärliche Vegetationsreste, bis der Körper über der Landschaft zu schweben scheint. Der Schatten gehört Silverio (Daniel Giménez Cacho), einem in den USA ­erfolgreichen mexikanischen Journalisten und Dokumentarfilmer um die 60. Seine Karriere begann er als Moderator einer Nachrichtensendung, bevor er sich auf essayartige Reportagen zur gewalttätigen Geschichte und Gegenwart Mexikos verlegt hat. In den USA ist er damit erfolgreich, in Mexiko gilt er manchem dagegen als Gringo-Freund und Verräter.

Vor mehr als einem Jahrzehnt ist er mit seiner Familie nach Kalifornien gezogen, wo sie um den Preis ­einer von Eltern und Kindern höchst unterschiedlich empfundenen kul­turellen Entfremdung ein privilegiertes Leben führen. Nun ist Silverio für ein paar Tage nach Mexiko zurückgekehrt, um dort seine Dankesrede vorzubereiten, die er bei der Entgegennahme eines renommierten Journalistenpreises in Los Angeles halten will. In der alten Heimat trifft er sich mit ehemaligen Weggefährten, weil er das Bedürfnis verspürt, sich noch einmal seiner Wurzeln zu versichern und seine Karriere Revue passieren zu lassen.

Nicht nur äußerlich ist Silverio als Alter Ego des Regisseurs Alejandro G. Iñárritu auszumachen. Mit »Bardo, die erfundene Chronik einer Handvoll Wahrheiten« kehrt Iñárritu gleich seinem Protagonisten in die alte Heimat zurück. Der Journalistenfilm ist seine erste Produktion seit »Amores Perros«, mit dem er im Jahr 2000 seinen Durchbruch feierte, die ganz überwiegend in Mexiko entstanden ist. Wie Silverio geht es auch Iñárritu spürbar um ein Resümee von Leben und Werk. Dass er dabei in einem Opus magnum, das vor technischer Perfektion, verrückten Einfällen, tiefen Einsichten und erschrockenem Zurückweichen vor diesen nur so strotzt, auch eigene Erfahrungen verarbeitet, wurde ihm in einigen Kritiken zum Vorwurf ­gemacht. Er lebe mit dem Film seinen gewaltigen Narzissmus aus, hieß es in Rezensionen, die nach der Premiere des Films beim Festival von Venedig im September erschienen sind. In einer monumentalen Leistungsschau filmischer Möglichkeiten – die in Venedig gezeigte Fassung des Films war 174 Minuten lang – feiere er, so hieß es, vor allem sich selbst.

Näherliegend wäre es aber wohl, »Bardo« nach Erfolgen wie »Babel« (2006), »Birdman« (2014) und »The Revenant« (2015) als neuen Ansatz für ein persönlicheres Erzählen zu begreifen – und damit durchaus als Schritt hin zu mehr künstlerischer wie inhaltlicher Relevanz. Gerade in Hinblick auf den hochgelobten ­Vorgängerfilm fällt das auf. Zwar bescherte »The Revenant« in seinem (wenn auch in artifiziell entsättigte Farben gebannten) Naturalismus dem Kinopublikum Tod und Verletzlichkeit im Pfeilhagel eines Indianerüberfalls oder beim Angriff eines Bären in bis dahin kaum dagewesener Drastik. Dann aber verpuffte die ­daraus resultierende emotionale Involvierung in einer letztlich recht konventionellen Rachegeschichte schnell wieder.

Nicht nur äußerlich ist Silverio als Alter Ego des Regisseurs Alejandro G. Iñárritu auszumachen. Mit »Bardo, die erfundene Chronik einer Handvoll Wahrheiten« kehrt Iñárritu gleich seinem Protagonisten in die alte Heimat zurück.

Dagegen reiht sich »Bardo« in seiner Kunst- und Existenzerkundung offensichtlich in eine Tradition ein, die mit Federico Fellinis »Achteinhalb« (1963) beginnt. Darüber hinaus greift er in vielen Szenen mit einer immer wieder ins überdreht Komische ausbrechenden Melancholie vor allem auch Stimmung und Raffinesse von Woody Allens »Stardust Memories« von 1980 auf. Während Fellinis Selbstbespiegelung mit ihrem Staraufgebot und dem permanent sehr von sich eingenommen wirkenden Marcello Mastroianni in der Hauptrolle immer wieder unter die zehn besten Filme aller Zeiten gewählt wird, wurde Allens in vieler Hinsicht innovativstem und anspielungsreichstem Film in zahlreichen Kritiken vorgeworfen, er kreise einzig um seinen Schöpfer, nehme sein Publikum nicht ernst oder sei ihm sogar feindlich gesinnt. Dazu fehle es »Stardust Memories« an einer übergeordneten Idee, um Ordnung in einen Wust aus larmoyanten Klagen eines Künstlers über Leben und Werk zu bringen.

Auch in »Bardo«, der fast auf die doppelte Spielzeit von »Stardust Memories« kommt, reiht sich eine surreale Idee an die andere, und häufig verliert der Zuschauer im Bilderrausch den erzählerischen Boden unter den Füßen. Etwa wenn eine ganz realistisch beginnende Geburtsszene in einem Kreißsaal damit endet, dass das Neugeborene dem Vater ins Ohr flüstert, es wolle nicht in ­einer dermaßen verrückten Welt leben, woraufhin die Geburt mit beeindruckender Selbstverständlichkeit rückgängig gemacht wird. Aber nicht nur persönliche Traumata des Prot­agonisten und seiner Familie erfahren solche Überhöhungen ins Symbolische. Ebenso verschwimmen beständig die Grenzen zwischen Silverios Filmen, seinen Gedanken und der umgebenden Realität.

So endet ein Besuch beim US-amerikanischen Botschafter im stilisiert albernen Reenactment einer Schlacht aus dem Mexikanisch-Amerikanischen Krieg. Und ein Spaziergang durch Colonia Roma, ein Viertel in Mexiko-Stadt, mündet in eine Horrorperformance über die Opfer von ­Gewalt und Entführungen im andauernden Konflikt zwischen Drogenkartellen, Regierung und Zivilgesellschaft, bevor der Journalist auf dem zentralen Platz der Hauptstadt einen riesigen Leichenberg erklimmt. Oben angekommen, führt er ein Interview mit dem Eroberer des Aztekenreichs, Hernán Cortés, in dem dieser darauf beharrt, dass er mit den wenigen ihm zur Verfügung stehenden Männern nie in der Lage gewesen wäre, die ihm zur Last gelegten Gräueltaten zu begehen. Der Alptraum endet an einem Filmset, wo gerade ein Scheinwerfer Feuer fängt. Die Komparsen, die die Körperpyramide auf dem Platz Zócalo bilden, rebellieren und ziehen unter Protest von dannen.

Überhaupt sind Menschenmassen in Bewegung ein wiederkehrendes Motiv des Films: von den Karawanen der nach Norden wandernden Migranten über choreographierte Warteschlangen bei der Einreise am Los Angeles Airport bis zu den wogenden Mengen beim großen Fest für Silverio in einem mexikanischen Tanzsaal. Letzteres bildet das Zentrum des Films und wartet mit einem der ­wenigen Ausbrüche des ansonsten zurückgenommen auftretenden Helden auf, der zu Musik, die nur er hört, wild gegen die Bewegungen der anderen Partygäste antanzt.

All das ist in gleitenden Einstellungen eingefangen, und häufig verzerren die Bilder des extremen Breitbildformats an den Rändern, was den Eindruck des tripartigen Morphens von Szene zu Szene und Idee zu Idee visuell unterstreicht. Wer sich auf die emotionale Achterbahnfahrt Silverios zwischen Ruhm und Scheitern, Verzweiflung und Zuversicht, Identitätsvergewisserung und Geschichtsbefragung einlässt, wird jedoch nicht nur mit einzelnen herausragenden Momenten belohnt. Vielmehr gelingt es Iñárritu, seine Geschichte bei aller Offenheit zu ­einem berührenden Ganzen zu formen. In der Zone der Ungewissheit zwischen Leben und Tod schafft er starke halluzuinatorische Momente. Das führt nicht unbedingt zu neuen Erkenntnissen, eröffnet aber ein Film­erlebnis voller Aha-Effekte und Spaß, wie es das im Kino nur alle paar Jahre einmal gibt.

Bardo, die erfundene Chronik einer Handvoll Wahrheiten (Mexiko 2022). Regie: ­Alejandro G. Iñárritu. Darsteller: Daniel Giménez Cacho, Griselda Siciliani, Ximena Lamadrid. Kinostart: 17. November