Alfred Seidel machte in den Zwanzigern Eindruck auf die späteren Vertreter der Kritischen Theorie

Der schlecht Entzauberte

In seinem Buch »In der Dämmerung« widmet sich Christian Voller der »Vor- und Frühgeschichte der Kritischen Theorie«. Einer, dem Voller darin eine ganze Studie widmet, ist der nahezu vergessene Alfred Seidel, dessen 1922 eingereichte Dissertation »Produktivität und Klassenkampf« großen Einfluss auf Walter Benjamin und Theodor W. Adorno ausübte.
Imprint

Einen frühen, für die Entwicklung der Kritischen Theorie nicht ganz irrelevanten, wenn auch bis heute wenig bekannten Versuch, das philosophische Totalitätsproblem im Rückgriff auf Marx und Engels neu zu bestimmen und mithin die Frage nach dem Verhältnis von Marxismus und ­Philosophie im Heidelberger Kontext weiter zu entfalten, unternahm ­Alfred Seidel in seiner Dissertation »Produktivität und Klassenkampf«, die er Ende 1922 bei Alfred Weber einreichte. Die Studie über die »philosophische Struktur des historischen Materialismus« steht im Zusammenhang einer weiter ausgreifenden Arbeit über »Wesen und Wandel der Ideologien«, die nach Seidels Tod unter dem Titel »Bewußtsein als Verhängnis« veröffentlicht wurde und zumindest vorübergehend eine gewisse Aufmerksamkeit erregte. Seine Dissertation hingegen blieb unveröffentlicht. Sie wurde allerdings im Kreis der späteren Vertreter der Kri­tischen Theorie gelesen und hat so eine untergründige, oder wie Jürgen Frese schrieb: »arkane«, Wirkung entfaltet.

Dieser Umstand allein rechtfertigt eine genauere Beschäftigung mit der Arbeit. Besondere Bedeutung kommt ihr zudem insofern zu, als sie das einzig erhaltene authentische Zeugnis von Seidels Denken ist. Denn das posthum erschienene Buch »Bewußtsein als Verhängnis« hat zwar eine ungleich weitere Verbreitung gefunden, allerdings müssen die ihm zugrunde liegenden Manuskripte als verschollen gelten, weshalb unklar bleibt, wie weitgehend die Eingriffe waren, die der Herausgeber Hans Prinzhorn an dem Werk vorgenommen hat, als er sich anschickte, bei »völliger Vertrautheit mit Seidels Absichten und seiner Ausdrucksweise (…) eine unbedingt sinngemäße, für den Autor charakteristische und in tieferem Sinne gültige Fassung herzustellen, als es ihm selbst bis dahin gelungen war«.

Noch kein Abonnement?

Um diesen Inhalt zu lesen, wird ein Online-Abo benötigt::