Gunilla Palmstierna-Weiss’ Autobiographie erscheint auf Deutsch

Ein Arbeitszimmer für mich allein

Die schwedische Künstlerin und Autorin Gunilla Palmstierna-Weiss (1928-2022) erzählt in ihrer Autobiographie »Eine europäische Frau« ihre bewegte Lebensgeschichte. So sehr sie auch den Stellenwert der Emanzipation betont: Wenn sie über ihre Ehe mit Peter Weiss schreibt, tun sich Widersprüche auf.

Das deutsche Publikum mag den ­Namen »Palmstierna« ungewöhnlich finden, schwedischen Leserinnen und Lesern ist er geläufig. Sie denken natürlich sogleich an den sozialdemokratischen Politiker und Diplomat Erik Palmstierna und seine Ehefrau, die Frauenrechtsaktivistin Ebba Palmstierna. Erik und Ebba sind die ­Großeltern von Gunilla Palmstierna-Weiss. Auch Gunilla Palmstierna-Weiss ist in Schweden eine bekannte Persönlichkeit. Als Bildhauerin, Keramikerin, Bühnenbildnerin und Autorin hat sie sich einen Namen gemacht. In Deutschland wird sie zumeist nur als die Witwe des Schriftstellers Peter Weiss wahrgenommen.

Weiter in der Familiengeschichte: Gunillas Vater, der Arzt Kule Palmstierna, heiratete gegen den Willen des Seniors die junge Ärztin Vera Herzog, Tochter einer jüdischen Buchdruckerfamilie, die im 19. Jahrhundert nach Schweden eingewandert und mit der Produktion von Bibeln und Gesangsbüchern zu Wohlstand gelangt war. Während eines beruflichen Aufenthalts des Ehepaars in Lausanne wurde Gunilla 1928 geboren; ihre Kindheit und Jugend verbrachte sie in Österreich, Frankreich und den Niederlanden. Die Ehe der Eltern hielt allerdings nicht lange; Vera Herzog heiratete in zweiter Ehe einen niederländischen Psychiater und lebte mit ihrer Tochter fortan bei ihm in Rotterdam.

Dort erlebte die junge Gunilla den Einmarsch der deutschen Truppen, die Zerstörung Rotterdams und den Selbstmord der Mutter, denn die neue Ehe war ein ebenso großer Fehlschlag wie die erste. Aufgrund ihrer jüdischen Herkunft schwebten Gunilla und ihr Bruder Hans stets in Gefahr, deportiert und ermordet zu werden. Die Geschwister konnten nach Schweden ausreisen, Gunilla studierte in Stockholm Kunsthandwerk mit Schwerpunkt Keramik, eröffnete mit zwei Kolleginnen eine Werkstatt im Stockholmer Freilichtmuseum Skansen, lernte den Schriftsteller Peter Weiss kennen und wurde zu einer international erfolgreichen Bühnenbildnerin.

Ausführlich schildert Gunilla Palmstierna-Weiss in ihrer jetzt auf Deutsch erschienen Autobiographie »Eine europäische Frau« ihre bewegte Familiengeschichte. Man merkt sofort, dass ihre Kindheit und Jugend von vielerlei Brüchen gekennzeichnet waren: die unglücklichen Ehen der Mutter; die Palmstiernas, die als vornehme Familie auch nach dem Tod von Vera so wenig wie möglich mit den unstandesgemäßen Enkelkindern zu tun haben wollten; der Vater, der sich allen Pflichten entzog; die Mutter, die sich wenig um die Kinder kümmerte, aber deren Zuwendung einforderte, und immer wieder die Bedürfnisse und das berufliche Fortkommen der Ehegatten über alles stellte.

Diese Erfahrungen gingen nicht spurlos an der Tochter vorbei. In ihrer Ehe mit dem schwedischen Graphiker Mark Sylwan hat sie das Verhalten ihrer Mutter wiederholt, immer ging die Arbeit des Mannes vor. Als sie nach der Trennung von Sylwan ein Arbeitsstipendium für die USA bekommen kann, wird der gemeinsame Sohn Mikael zu Verwandten abgeschoben. Später betont sie das enge Verhältnis zu ihrem Sohn, der im Buch allerdings stets als »Mikael Sylwan« erscheint. Ob die Autorin solche Widersprüche nicht wahrnimmt oder nicht aufgreifen möchte, bleibt ihr Geheimnis, was dem Buch aber eine zusätzliche Spannung gibt. Nie verheilte Verletzungen werden noch Jahrzehnte nach den Geschehnissen im Buch deutlich, werden aber nie reflektiert, ihr Verhalten erklärt sie nur ganz ausnahmsweise.

Immer wieder betont sie, dass Peter Weiss die Gleichberechtigung der Geschlechter für selbstverständlich hielt, und wie zum Beweis schreibt sie von dem eigenen Arbeitszimmer in der gemeinsamen Wohnung. Als ein gemeinsam verfasstes Buch nur unter seinem Namen erscheint, findet sie: Peter, dem die Gleichberechtigung der Geschlechter so wichtig war, hätte dagegen protestieren müssen. Die Frage, warum sie nicht selbst etwas dagegen unternommen hat, stellt sie sich gar nicht. Peter hätte »natürlich« niemals ihren Nachnamen angenommen, teilt sie mit; warum sie aber seinen annimmt, ­erzählt sie auch nicht. Wenn Peter fremdgeht, leidet sie unsäglich, obwohl sie sich auf eine freie Beziehung geeinigt haben, doch als er mit der Übersetzerin Maria Carlsson-Augstein anbandelt, reicht es ihr endgültig. Als sie geht, ruft der angeblich auf Gleichberechtigung versessene Peter empört aus: »Und wer kümmert sich um mich, wenn ich noch einen Herzinfarkt bekomme?«

Das Bild des emanzipierten Mannes hat Risse bekommen. Dafür hat bereits Irene Weiss-Eklund, die Schwester von Peter Weiss gesorgt. In ihrer Autobiographie »Auf der Suche nach einer Heimat« (2001) schildert sie das schwierige Verhältnis zu ihrem Bruder. Gunilla Palmstierna-Weiss scheint von der Schwägerin nicht viel zu halten, sie bezeichnet Weiss-Eklunds Buch als »Familienbiographie voller Verbitterung«. Beide Bücher haben eines gemeinsam: Sie deuten die Abgründe einer Familie an, deren Chronik für eine Netflix-Serie prädestiniert wäre.
Apropos Serie: Die englische Fernsehserie »Upstairs, Downstairs« hieß auf Deutsch nicht »Herrschaft und Dienerschaft«, wie es in der Autobiographie »Eine europäische Frau« übersetzt wird, sondern »Das Haus am Eaton Place«. Jedenfalls vergleicht die Autorin an einer Stelle die Gepflogenheiten im Haus des Großvaters väterlicherseits, der zur betreffenden Zeit als Botschafter in London lebt, mit dem Dünkel der herrschaftlichen Serienfamilie: »Wenn man die englische Fernsehserie ›Herrschaft und Dienerschaft‹ gesehen hat, kann man sich vorstellen, wie es damals in der Schwedischen Botschaft in London zugegangen sein mag.«

Die Autobiographie ist die Geschichte einer Künstlerin, die sich neben einem überlebensgroß erscheinenden Mann behaupten muss. Das liest sich schon spannend genug. Zugleich ist es aber auch ein wunderbares Buch voller Klatsch und Tratsch, das tiefe Einblicke in den patriarchal geprägten Kulturbetrieb gewährt. Man liest über Siegfried Unselds Macho-Gehabe, begegnet Samuel Beckett und »seiner Frau« (Gunilla Palmstierna-Weiss hat die irritierende ­Angewohnheit, die Namen von Ehefrauen bedeutender Männer gar nicht eigens zu erwähnen) und den Herren aus der Gruppe 47. Palmstierna-Weiss berichtet über ihre Besuche bei der nordvietnamesischen Führungsspitze und bei Fidel Castro, über das sogenannte Russell-Tribunal zur Aufklärung US-amerikanischer Kriegsverbrechen im Vietnam-Krieg und sie schreibt über ihre im Kulturleben und in der Politik tätigen Landsleute. Manchmal wäre es wünschenswert, über diese Personen mehr zu erfahren. Da das Buch für ein schwedisches Publikum geschrieben worden ist, waren solche Erklärungen im Original nicht nötig; sie der deutschen Ausgabe hinzufügen, als Namensliste vielleicht, hätte das 600 Seiten umfassende Buch allerdings noch viel dicker ­gemacht und vermutlich die finanziellen Möglichkeiten des Verlags ­gesprengt.

Das Buch ist in zwei Teile gegliedert. Im ersten Teil schildert die Autorin ihre Lebensgeschichte; der zweite Teil ist eine Darstellung ihrer gemeinsamen Arbeiten mit Peter Weiss. Man erfährt, wann und wo welches Theaterstück aufgeführt und wie es von der Kritik aufgenommen wurde. Das Buch liest sich wie ein Roman und ist zugleich informativ wie ein Nachschlagewerk. Eine Mischung, die absolut faszinierend ist.

Am 20. November 2022 ist Gunilla Palmstierna-Weiss im Alter von 94 Jahren in Stockholm gestorben.

Gunilla Palmstierna-Weiss: Eine europäische Frau. Aus dem Schwedischen von Jana Hallberg. Verbrecher-Verlag, Berlin 2022, 600 Seiten, 39 Euro