Georgij Kasianow, Historiker, über die Einstufung der Hungerkatastrophe in der Ukraine 1932 und 1933 als Genozid

»Das aufrichtigste Gedenken an die Opfer kommt von unten«

Der Begriff Holodomor (Ukrainisch für »Tötung durch Hunger«) ­bezeichnet die vom sowjetischen Diktator Josef Stalin gezielt eingesetzte Hungersnot in den Jahren 1932 und 1933 in der Ukrainischen Sozialis­tischen Sowjetrepublik. Um ihr Industrialisierungsprogramm zu finanzieren und ihre Macht in der Sowjetrepublik zu festigen, zwangskollek­tivierten die Bolschewiki die Landwirtschaft, legten der Bauernschaft unerfüllbar hohe Abgabequoten auf, bei deren Nichter­füllung sie ihnen Vorräte und Saatgut entzogen, und hinderten sie mit Gewalt an der Flucht in die Städte. Es starben rund vier Millionen Menschen. Seit 1991 kämpft die Ukraine für die internationale Anerkennung der Hungersnot als Völkermord. Der Bundestag hat Ende November mehrheitlich für den von den Regierungsfraktionen und der Fraktion der CDU/CSU eingereichten Antrag gestimmt, den Holo­domor als Genozid einzustufen.

Noch 2019 sagte Michael Roth (SPD), Staatsminister im Auswärtigen Amt, anlässlich einer entsprechenden Petition, dass sich die Bundes­regierung die völkerrechtliche Beurteilung des Holodomor als Völkermord rückwirkend nicht zu eigen machen könne, da der Begriff erst 1948 im Völkerstrafrecht definiert worden sei. Dient die aktuelle Entscheidung, den Begriff nun doch zu verwenden, als eine Art Gewissensberuhigung wegen des Vorwurfs, die Bundesregierung schicke zu wenig Waffen und schweres Gerät in die Ukraine?

Zwar handelt es sich eindeutig um eine politische Entscheidung – das ist aber kein deutsches Spezifikum, sondern auch bei Resolutionen von Parlamenten anderer Länder zu beobachten. Angesichts der schwierigen Vorgeschichte der Anerkennung des Holodomor als Genozid in Deutschland glaube ich, dass der derzeitige Krieg Russlands gegen die Ukraine, der Züge einer genozidalen Absicht trägt, eine entscheidende Rolle gespielt hat. Zumindest behauptet der russische Präsident Wladimir Putin selbst, dass die Ukrainer als eigenständiges Volk eine Fiktion seien und die Ukraine als Staat etwas Künst­liches sei.

»Unter den vier Millionen Toten, mehrheitlich ethnischen Ukrainern, waren auch Polen, Juden, Deutsche, Griechen und andere Nationalitäten vertreten.«

Die derzeitige Zerstörung der zivilen Infrastruktur, die darauf abzielt, unerträgliche Lebensbedingungen für die Zivilbevölkerung zu schaffen, die Praxis, Kinder nach Russland zu deportieren, die Tötung ukrainischer Aktivisten in den besetzten Gebieten, die vollständige Umschreibung der schulischen Lehrpläne in diesen Regionen, mehr als zehn Millionen Flüchtlinge – all dies rückt die Frage nach genozidalen Absichten, einschließlich des Holodomor, in den Mittelpunkt.

Die Deutsch-Ukrainische Historikerkommission (DUHK), ein zivilgesellschaftlicher Zusammenschluss deutscher und ukrainischer Forscherinnen und Forscher, argumentierte vor zwei Jahren unter anderem mit Bezugnahme auf Sie, dass eine Einordnung als Genozid nur eine der möglichen Interpretationen des Holo­domor sei. Jetzt begrüßt auch sie die Resolution.

Die DUHK hat die Qualifizierung des Holodomor als Genozid nie bestritten. Frühere Erklärungen der Kommission haben diese Version bestätigt. Ich denke, dass die Faszination der Auseinandersetzungen zwischen Politikern und Fachhistorikern, die Geschichte als Wissenschaft und nicht als Diener politischer Forderungen zu betrachten, darin besteht, dass im wissenschaftlichen Diskurs verschiedene Versionen zugelassen werden: »Genozid«, »Soziozid«, »Verbrechen gegen die Menschheit«. Die Wissenschaftlerin ist verpflichtet, über alle Optionen und Interpretationen zu sprechen. Ein Politiker oder eine dem politischen Diskurs dienende Historikerin bestehen hingegen auf nur einer Version, alle anderen sind für sie inakzeptabel.

Welche Argumente sprechen gegen die Einordnung als Völkermord?

Unstrittig ist, dass die künstlich herbeigeführte Hungersnot 1932 und 1933 sich gegen die Bäuerinnen und Bauern richtete, um ihren Widerstand gegen die Kollektivierung der Landwirtschaft zu brechen. Die nationale Dimension dieser Hungersnot beschränkte sich jedoch nicht auf die Ukrainerinnen und Ukrainer, auch wenn sie die größten demographischen Verluste infolge der Hungersnot auf ihrem Staatsgebiet zu beklagen hatten – etwa vier Millionen Tote. Unter den mehrheitlich ethnischen Ukrainern waren auch Polen, Juden, Deutsche, Griechen und andere Nationalitäten vertreten. Gleichzeitig gab es Repressionen gegen die Intelligenzija, nicht nur die ukrainische, sondern auch die polnische, deutsche und ­jüdische. Die in der Ukraine vorherrschende Version hingegen stellt der ­Holodomor offiziell als Genozid an ethnischen Ukrainern dar.

Seit 2006 ist die Holodomor-Leugnung in der Ukraine verboten; seit 2015 gelten der Faschist Stepan Bandera, die Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN), deren eine Fraktion, die OUN-B, er angeführt hatte, und deren militärischer Arm, die Ukrainische Aufstands­armee (UPA), per Gesetz als »Kämpfer für die Unabhängigkeit«, obwohl sie zeitweise mit der Wehrmacht kooperiert und Juden und Polen ermordet hatten. Sie anders zu bezeichnen, ist verboten. Da der Bundestag Ende Oktober eine Verschärfung des Strafgesetzbuchs beschloss, könnte nun auch die Leugnung des Holodomor unter bestimmten Bedingungen strafwürdig sein. Zu wie vielen Verurteilungen haben die ­genannten Verbote in der Ukraine bislang geführt?

Die Leugnung des Holodomor ist in der Ukraine zwar seit 2006 rechtswidrig, aber keine Straftat. Von 2007 bis 2019 versuchten rechtskonservative und nationalistische Politikerinnen und Politiker, die Leugnung des Holodomor oder seine Leugnung als Genozid zu kriminalisieren. All diese Versuche standen im Kontext politischer Kämpfe und kurzfristiger politischer Interessen. Ebenso wird öffentlich geäußerte Respektlosigkeit für die Unabhängigkeitskämpfer, nicht nur für die von der OUN oder der UPA, im Gesetz von 2015 als rechtswidrig bezeichnet.

Werden stattdessen andere Taten strafrechtlich verfolgt?

Was wirklich kriminalisiert wird, ist die »Propaganda der Symbole des kommunistischen und des Naziregimes«. Zwischen 2015 und 2020 wurden in der Ukraine mehr als 120 Personen festgenommen, die den Strafverfolgungs­behörden zufolge diese Symbole propagiert haben sollen. Von ihnen wurden etwa anderthalb Dutzend gerichtlich verurteilt. Unter denen wiederum ist mir nur ein Fall bekannt, in dem es um Nazisymbole ging.

Wie kann ein würdiges Gedenken aussehen?

Es gibt das offizielle Holodomor-Genozid-Mahnmal in Kiew. Es war das wichtigste Projekt des ehemaligen ukrainischen Präsidenten Wiktor Juschtschenko, der das künstlerische Konzept der Gedenkstätte persönlich genehmigte. Er zeichnet dafür verantwortlich, dass die gesamte Gedenkstätte an einem geologisch völlig ungeeigneten Ort errichtet wurde – dafür aber in der Nähe des Höhlenklosters, dem wichtigsten Heiligtum der ukrainischen Orthodoxie, und als Gegengewicht zu der bescheidenen sowjetischen Gedenkstätte. In den vergangenen Jahren wurde das Museum von Leuten geleitet, die Opferzahlen nach oben treiben, indem sie etwa behaupten, dass 15 Millionen Ukrai­ner, also fast jeder zweite damalige Einwohner, an den Folgen der Hungersnot gestorben sei. Damit profanisieren sie aber die Erinnerung an die Toten. Ich meine, dass das aufrichtigste Gedenken an die Opfer der Hungersnot von unten kommt, in Form von Bürgerinitiativen und anderen zivilgesellschaftlichen Gruppierungen.

Wie bewerten Sie die jüngsten populärwissenschaftlichen Versuche, den Holodomor einer breiten Öffentlichkeit bekannt zu machen?

Anne Applebaums Buch »Roter Hunger« etwa ist eine beeindruckende journalistische Untersuchung der Geschichte der Hungersnot von 1932 bis 1933, wenngleich es nichts Neues bietet. Es basiert hauptsächlich auf Material, das bereits in den neunziger bis nuller Jahren von ukrainischen Historikerinnen und Historikern veröffentlicht wurde, und wiederholt faktisch die offizielle ukrainische Version der Geschichte, die durch das Erinnerungsgesetz von 2006 gefestigt wurde. Applebaum schrieb dieses Werk im Auftrag der ukrainischen Dia­spora in den Vereinigten Staaten. Die Autorin wurde für ihren Beitrag mit einem ukrainischen Orden ausgezeichnet, weil sie öffentliche Aufmerksamkeit für das Thema geschaffen habe. Grundsätzlich ist es seit langem gängige Praxis, bekannte Persönlichkeiten aus dem Westen damit zu beauftragen, ein westliches Publikum zu informieren.

Was sind die Gründe für das mangelnde Wissen im Westen?

Der Holodomor wurde im Westen lange nicht beachtet. Diese Ignoranz ist maßgeblich durch die Politik der Sowjet­union bedingt, die Tragödie zu vertuschen. Es lag auch daran, dass die Ukraine im Westen nicht als eigenständiges Subjekt der Geschichte wahrgenommen wurde.

Georgij Kasianow ist Historiker und leitet die Einrichtung für internationale Erinnerungsforschung an der Maria-Curie-Skłodowska-Universität in Lublin (Polen). Bis 2021 führte er die Abteilung für Zeitgeschichte und Politik im Institut für Geschichte der Ukraine an der Nationalen Akademie der Wissenschaften der Ukraine in Kiew. Als Autor und Koautor hat er mehr als 20 Bücher über die Geschichte der Ukraine vom 19. bis zum 21. Jahrhundert veröffentlicht, darunter eines über die kulturelle Erinnerung an den Holodomor. Sein jüngstes Buch, »Memory Crash. Politics of History in and Around Ukraine, 1980s–2010s«, ist dieses Jahr erschienen.