Der Mythos künstliche Intelligenz

Der Bot als Spiegel

Trotz anderslautender Behauptungen gibt es bis heute keine künstliche Intelligenz, sagt der Kolumnist.
Was kümmert mich der Dax Von

Marketingbegriffe werden oftmals schnell wieder vergessen. Einer US-Forschergruppe um John McCarthy aber ­gelang es in einem Projektantrag 1955 nicht nur, durch geschickte Wortwahl das Interesse der Geldgeber zu wecken, sie prägten mit »artificial intelligence« (künstliche Intelligenz, KI) auch einen sehr langlebigen und einflussreichen Begriff. Dies ist um so bemerkenswerter, als es bis heute keine KI gibt, jedenfalls, wenn man als Intelligenz nicht das schnelle und widerspruchslose Erledigen von Aufgaben, sondern Verstehen und Erkennen bezeichnet. Auch der nun vieldiskutierte Bot ChatGPT ist nur ein eloquentes, auf Anweisung sich selbst erweiterndes Lexikon, das stilistisch wie inhaltlich flexibel ist und auch etwa Programmcodes schreiben kann, aber nicht intelligenter ist als die Ency­clopædia Britannica.

Wissenschaft und Technologie mögen uns eine echte KI weiterhin schuldig bleiben, doch erfüllen ihre Produkte bereits jetzt jene Funktion, die künstlichen Personen in der Science-Fiction oft zukommt. Sie dienen als Spiegel der Menschheit, die allerdings nur ungern hineinschaut, wenn ihre schmutzigen Geheimnisse enthüllt werden. Die Lobredner:innen des Kapitalismus werden nicht müde, von Innovation und Kreativität zu schwatzen, aber im wirklichen Leben wird fast immer bestenfalls eine mit Gadgets bereicherte neue Version des Althergebrachten präsentiert, ob nun ein iPhone oder ein Marvel-Sequel dem anderen folgt. Schließlich kostet jede wirkliche Innovation viel Geld und birgt das Risiko, sich nicht gut genug zu verkaufen.

Intelligenz wird daher am Markt kaum nachgefragt. Die meisten »geistigen« Tätigkeiten sind Routinearbeiten, die nunmehr von einem Bot erledigt werden können, der sich nicht erdreistet, auf einer Work-Life-Balance oder gar einem Feierabend zu bestehen. Aber auch Management und Bourgeoisie könnten durch Bots ersetzt werden. In den USA wird bereits etwa die Hälfte der Aktien von Computerprogrammen gehandelt. Es ist nicht schwer, einen Arbeitgeberpräsidenten-Bot zu erschaffen, der die Litanei von »Rente frühestens mit 75« und »Arbeitszeiten flexibilisieren« beherrscht, aber auch ein Elon-Musk-Bot mit den Eskalationsstufen »aufgeblasen«, »extrem arrogant« und »gottgleich« sollte machbar sein. Doch hier dürften die Machtverhältnisse eine Grenze setzen, schließlich ist der Mythos von der brillanten, wenn nicht genialen Unternehmerpersönlichkeit unentbehrlich für die Legitimation des Kapitalismus.