Das Fußballjahr 2022

Im Boykottjahr

Pandemie, Krieg, Katar – ein Rückblick auf das Fußballjahr 2022.

Selten erreicht ein Fußballjahr seinen Klimax mit Anbruch des Winters. Während sich die Highlights – Meisterschaftsentscheidungen, Abstiegskrimis und internationale Großturniere – für gewöhnlich im Sommer drängen, hatte der Weltfußballverband Fifa die Weltmeisterschaft der Männer 2022 in den November und Dezember verlegt. Und damit für einen Protestwinter sondergleichen gesorgt.

Beinahe in Vergessenheit ist dagegen inzwischen geraten, dass der Beginn dieses Jahres noch wesentlich von den Auswirkungen der Covid-19-Pandemie geprägt war. Während des vergangenen Winters waren die Infektionszahlen erneut in die Höhe geschossen, so dass Zuschauer und Zuschauerinnen beim Fußball gänzlich oder teilweise ausgeschlossen waren. Die meisten aktiven Fangruppen kehrten somit erst im Frühjahr zurück, als die Stadien wieder voll ausgelastet werden durften.

WM-Alternative Frauenfußball: Beim 1. FC Nürnberg besuchten über 17 000 Fans das Spiel gegen die Frauen des VfL Wolfsburg, in Bremen unterstützen über 20 000 die Werder-Frauen gegen den SC Freiburg.

So mussten viele Fans wie schon in den zwei Jahren zuvor andere Wege suchen, um auf sich aufmerksam zu machen. Ultras von Werder Bremen malten etwa zum Holocaust-Gedenktag Ende Januar große Transparente mit den Aufschriften »Nie wieder Auschwitz« und »SV Werder antifaschistisch«, die dann bei einem Testspiel ihres Vereins vor leeren Rängen von der Mannschaft präsentiert wurden.

Ein Betätigungsfeld außerhalb des Stadions fanden nicht wenige in Hilfsaktionen für die seit dem russischen Einmarsch Ende Februar in der Ukraine notleidenden Menschen. So sammelten etwa Fangruppen in Bielefeld, Dortmund, Dresden, Frankfurt und Stuttgart Spenden und Hilfsgüter. Die Gruppe Ultrà Sankt Pauli sammelte Spenden explizit für »progressive, linke Kräfte in der Ukraine«. Fans von Tennis Borussia Berlin, die bereits wieder im Stadion zugegen waren, präsentierten eine Solidaritätsbotschaft in den ukrainischen Landesfarben.

Am 8. Mai zeigten FC-Bayern-Fans beim Heimspiel gegen Stuttgart das Spruchband »Nie wieder Faschismus«. Ebenfalls im Mai stand das DFB-Pokalfinale an, in dem der erst 2009 gegründete Verein RB Leipzig seinen ersten Titel gewinnen konnte. RB Leipzig wird von vielen Fans als ein vom Energydrink-Giganten Red Bull gesteuertes Investorenprojekt abgelehnt. Die Ultra-Gruppe Corrillo des Finalgegners SC Freiburg schrieb in einem Text vor der Partie: »RB steht sinnbildlich für das kranke System Profifußball. Wirtschaftliche Interessen überlagern immer mehr das, was wir alle am Fußball und Stadionbesuch lieben. Es braucht daher grundlegende Reformen.«

Dem im Oktober dieses Jahres verstorbenen Dietrich Mateschitz, dem 49 Prozent der Red Bull GmbH gehörten, wurden schon lange rechtspopulistische Einstellungen nachgesagt. Die Red Bull Media House GmbH betreibt den österreichischen Fernsehsender Servus TV, der in der Vergangenheit rechten Aktivisten und Aktivistinnen sowie Verschwörungstheoretikern und -theoretikerinnen eine Plattform bot. Passenderweise meldete sich AfD-Bundessprecher Tino Chrupalla nach dem Pokalsieg Leipzigs per Twitter zu Wort und verkündete, dass »sächsische Standhaftigkeit und österreichischer Unternehmergeist letztlich den Sieg über politische Korrektheit davongetragen« hätten.

Der Deutsche Fußball-Bund (DFB) war vor dem Finale kritisiert worden, weil für das Ereignis keine Kinderkarten und ermäßigte Tickets angeboten wurden. Ungeachtet der in­dividuellen Einkommenssituation mussten die Fans somit bereits in der billigsten Preiskategorie 60 Euro für eine Eintrittskarte bezahlen.

Im Juli setzte sich bei der Präsidentenwahl auf der Mitgliederversammlung des Berliner Bundesligisten Hertha BSC Kay Bernstein gegen den CDU-Politiker Frank Steffel durch. Bernstein ist ehemaliger Ultra und Vorsänger in der Fankurve der Blau-Weißen und wurde vom Boulevard reißerisch zum »Pyro-Präsidenten« ernannt, der für weitere Unruhe im ohnehin mitunter allzu chaotischen Hauptstadtclub sorgen würde. In den bisherigen Monaten seiner Amtszeit scheint sich die Situation bei Hertha allerdings eher beruhigt zu haben.

Ebenfalls im Juli sorgte die Ankündigung zweier Testspiele der Vereine 1860 München beziehungsweise Mainz 05 jeweils gegen den englischen Erstligisten Newcastle United für Aufregung. Newcastle ist seit Oktober 2021 mehrheitlich in Besitz eines saudi-arabischen Staatsfonds und wird dafür kritisiert, zur »Sports­washing«-Politik des autoritären Königreichs beizutragen. Aktive Fans in München und Mainz protestierten scharf gegen die Austragung der freundschaftlichen Vergleiche.

Im August zeigten Fans von Hansa Rostock ein großes Banner des Fanclubs »Lichtenhagen« in Richtung des Gästeblocks beim Spiel gegen den FC St. Pauli – einen Tag vor dem 20. Jahrestag der rassistischen Angriffe auf das sogenannte Sonnenblumenhaus im gleichnamigen Rostocker Stadtteil. Die Präsentation der Fahne darf wohl als Provokation Marke unterste Schublade verstanden werden, zumal am selben Tag auch ein homophobes Spruchband im Rostocker Fanblock die Gäste beleidigen sollte.

Werder-Bremen-Fans hingegen zeigten im September mehrere Banner, die sich gegen Trans-Feindlichkeit richteten. Unter anderem war zu lesen: »Queerfeindlichkeit tötet. Rest in Peace Malte.« Malte C. ist der Name eines jungen Transmanns, der zuvor nach einem brutalen Angriff am Rande des Christopher Street Days in Münster gestorben war.

Ultras des FC St. Pauli besuchten im September ein Spiel der zweiten Mannschaft ihres Vereins in der viertklassigen Regionalliga Nord. Sie nahmen Bezug auf die anhaltenden Proteste gegen das Regime im Iran und schrieben auf ein Spruchband: »Solidarität mit der feministischen Revolution im Iran!«

Zum Ende des Jahres wurde die anstehende WM in Katar immer mehr zum Thema. Schon im Juni waren Fans in Mönchengladbach festgenommen worden, die während eines Länderspiels er deutschen Nationalelf ein großes Banner zeigten: »15 000 Tote für große Kulissen – Fifa und Co. ohne Gewissen.« Im September sorgte Dario Minden, ein Vertreter des Fan-Dachverbands »Unsere Kurve«, für Aufsehen, als er bei einer DFB-Veranstaltung den anwesenden Botschafter Katars öffentlich ansprach und mitteilte, schwul zu sein und Sex mit Männern zu haben. Er sagte: »Get used to it – or stay out of football.«

Je näher das Turnier rückte, desto hör- und sichtbarer wurde der Protest der Fans. An den Spieltagen unmittelbar vor der WM-Pause gab es nahezu in jedem Stadion deutliche Aufrufe, die WM zu boykottieren. Im Rahmen einer Choreographie in der Duisburger Fankurve stand etwa geschrieben: »Mord, Sklaverei und Unterdrückung, doch eure Ordnung ist auf Sand gebaut! Fußballfans vereinigt euch! Holen wir uns den Sport zurück!« Deutlich gesunkene Einschaltquoten während der WM in Katar im Vergleich mit früheren Weltturnieren zeigten, dass sich wohl tatsächlich Hunderttausende für den Boykott vor den Bildschirmen entschieden hatten.

Die aktiven Fanszenen versuchten vielerorts, ein Zeichen gegen die ­Fifa-Veranstaltung zu setzen, etwa durch den Besuch der während der WM stattfindenden Spiele der Frauenligen. Beim 1. FC Nürnberg besuchten über 17 000 Fans das Spiel gegen die Frauen des VfL Wolfsburg, in Bremen unterstützen über 20 000 die Werder-Frauen gegen den SC Freiburg. Beide Spiele fanden in den eigentlich nur für den Männerfußball genutzten großen Stadien der Vereine statt. Und so hat die umstrittene WM zumindest in dieser Hinsicht für einen positiven Effekt gesorgt.