Der Kosmetikunternehmerin Kylie Jenner wird vorgeworfen, ein »Kulturgeier« zu sein

Küsse vom Kulturgeier

Kylie Jenner, It-Girl und Kosmetikunternehmerin, erntete den Vorwurf der kulturellen Aneignung, weil sie ihrem neuen Lipgloss einen spanischen Namen gab. Wokeness und Diversität sind inzwischen wichtige Säulen des Marketings.

Ist Kosmetikunternehmerin und Kardashian-Clanmitglied Kylie Jenner ein »culture vulture«, auf Deutsch also ein Kulturgeier, der sich unrechtmäßig an fremder Kultur bedient, oder ehrt sie mit ihrem neuesten Produkt ihre Latina-Fans? Diese Diskussion entbrannte in den sozialen Medien, als sie auf Instagram, wo sie die Frau mit den meisten Followern ist, im Oktober ihren wassermelonenfarbigen Lipgloss namens ­Besitos, Spanisch für Küsschen, in einem Tiktok-Video bewarb. »It’s so ­pretty, besitos«, säuselt sie in ihre Handykamera und schmatzt ihren Followern ein Küsschen entgegen.

Die Jenner-Kardashian-Schwestern wurden seit ihrem Aufstieg zu It-Girls von Weltrang von Anhängerinnen der Diversity-Idee einerseits dafür gefeiert, das eurozentrische Schönheitsideal à la Paris Hilton – dürr, blond, blauäugig – abgelöst zu haben und für ein neues, vermeintlich inklusiveres zu stehen: kurvig, dunkelhäutig, mit vollen Lippen. Andererseits gebe es eine »lange und gut dokumentierte Geschichte, wie der Kardashian-Jenner-Clan von Latinx-Kultur profitiert«, sich die ­Kultur von Latinos und Latinas also unrechtmäßig aneigne, wie Marilyn La Jeunesse im US-amerikanischen Lifestyle-Magazin Allure meinte. Bereits wegen der Tequila-Marke von Kylies Schwester Kendall Jenner sowie des Hochzeitsschleiers ihrer Halbschwester Kim Kardashian hagelte es Vorwürfe der kulturellen Aneignung.

Die Kaufkraft von US-Latinos beläuft sich inzwischen auf 1,5 Billionen US-Dollar pro Jahr.

Jenners Lipgloss sei nicht so »unschuldig«, wie das Video suggeriere, warnt La Jeunesse die Leserinnen. »Einem Produkt einen spanischen Namen zu geben, ist eine Kommerzialisierung von Sprache, die in den USA mit einem generationellen Trauma verbunden ist.« Das Problem bestehe darin, dass Jenner ihrem Lipgloss problemlos einen spanischen Namen geben könne, ja sogar davon profitiere, während ­viele aus Lateinamerika in die USA emigrierte Eltern ihren Kindern kein Spanisch beibrächten, um sie vor Diskriminierung zu schützen. »Jahrzehntelang wurden Latinos diskriminiert. Von uns wurde erwartet, dass wir uns an die amerikanische Kultur anpassen, unsere Muttersprache aufgeben und uns unauffällig verhalten«, kritisiert auch die Unternehmerin Regina Merson. Dass die berühmte Kylie Jenner nun sogar mit Versatzstücken dieser ­Sprache wirbt und die Kaufkraft von US-Latinos einkalkuliert, die sich in­zwischen immerhin auf 1,5 Billionen Dollar jährlich beläuft, gefällt ihr ­trotzdem nicht.

Merson, ebenfalls im Kosmetikgeschäft tätig, wenn auch mutmaßlich nicht ansatzweise so erfolgreich wie Jenner, kritisiert die Konkurrenz: »Jetzt, wo Latinos Mainstream sind, von unserer Kultur und Sprache zu profitieren – das geht nicht.« Das Image ihrer Marke Reina Rebelde (Spanisch für »rebellische Königin«) basiert darauf, eines der »best-selling Latina-­owned« Kosmetikunternehmen zu sein. Zu dessen Marketingstrategie ­gehört es offensichtlich, sich über die Verwendung spanischer Sprache und Referenzen an »Latino-Kultur« einen bestimmen Markt zu erschließen und Kundenbindung durch Identifikation herzustellen.

Auf ihrer Unternehmensseite ist zu lesen, dass es neben Mersons Begeisterung für Schminke, die mit einer me­xikanischen Telenovela begonnen habe, ihr »extremer Stolz auf ihre kulturelle Identität als Latina« sei, der den Anstoß zur Gründung der Marke gegeben habe. Wäre diese Latina-Identität nicht Teil des Mainstream, könnte Merson allerdings ebenso wenig von dieser Marketingstrategie profitieren wie Jenner. Da es kein ­Patent gibt, das nur Latinas das Recht einräumt, ihre »Identität« zu vermarkten, erhebt Merson den moralischen Zeigefinger, um die eigene Ware auf dem Markt anzupreisen und die Konkurrenz in ein schlechtes Licht zu rücken: Sie biete authentische Latina-Kosmetik, Kylie Jenner habe kein Recht dazu. Wobei Reina Rebelde tatsächlich das Zertifikat »Women and Minority-owned Business« führt, welches von einer Organisation namens National ­Minority Supplier Development Council vergeben wird.

Damit zu werben, dass man das Ori­ginal sei und die anderen nur eine ­billige Kopie, ist im Marketing eine alte Masche. Besonders dann, wenn die ­vermeintliche Kopie sehr erfolgreich ist – so hat schon fast jeder kleine Rapper versucht, mit einem Diss-Track ­etwas vom Erfolg der großen Stars abzukupfern. Als rein unternehmerische Frage wäre das Ganze nicht unbedingt von weiterem Interesse. Die Verquickung von Marketing mit dem postkolonialen Jargon und dem entsprechenden Aktivismus entpuppt sich aber besonders in den sozialen Medien als Phänomen, das durchaus politische Implikationen hat.

Der Aktivismus woker Social-Media-Nutzerinnen geht bei jeder sich bietenden Gelegenheit, vermeintlich gemeinsam gegen Diskriminierung zu protestieren, eine merkwürdige Symbiose mit persönlichen Unternehmerinteressen ein. Der Anspruch auf Authentizität und das Bekenntnis zu Vielfalt sind sowieso längst integrale Bestandteile eines guten Marketings. So heißt es auch auf Mersons Unternehmens­seite: »Reina Rebelde ist stolz darauf, ein Unternehmen in Latina-Eigentum zu sein und auch als solches geführt zu werden. Wir laden dich ein, dieser dynamischen und diversen Commu­nity der Königinnen (»Reinas«) beizu­treten.«

Auf der anderen Seite sind es heutzutage neben Denkmälern oder Künstlern oft Unternehmen, Marken und ­Influencerinnen, die man sich vermeintlich antirassistischer Mission bekämpft, um den Kapitalismus woke zu machen – der Shitstorm gegen Kylie Jenner zeigt das erneut. Der Markt wäre demnach ein großer Wohltätigkeitskreislauf, wenn sich nur alle Kon­sumenten moralisch richtig verhielten und alle Unternehmen auf Diversität bei der Stellenvergabe achteten. »Neben der Einstellung von »Latinx« für spezifische »Latinx-business«-Fragen möchte La Jeunesse mehr Marken ­sehen, die in »Bipoc-Wohltätigkeitsprojekte investieren«.

Die Kosmetikunternehmerin Leslie Valdivia sagte Allure: »Es ist so wichtig, bewusst zu konsumieren. Wenn wir ­Latinas unser Geld mehr in Marken von anderen Latinas investieren würden, dann würde das Einkommen und Möglichkeiten für uns alle schaffen.« In Teilen der USA ist es inzwischen üblich, beispielsweise Biersorten auf der Getränkekarte nach ethnischen Kategorien als »black-owned« oder »hispanic-owned« zu kennzeichnen, damit die Konsumentin auch weiß, wessen Unternehmen sie durch ihren Kauf unterstützt. Ganz in diesem Sinne beklagt La Jeunesse, dass, wenn »Marken ihre ­Diversitätskennzahlen nicht öffentlich machen, sie es erschweren, sich über Kosmetikmarken zu empören, die sich an der Latinx-Kultur bedienen, ohne Latinx-geführt zu sein, um ihre Produkte zu verkaufen«.

Anders als Merson und Valdivia freut sich Malena Higuera, eine Managerin der zu L’Oréal gehörenden Kosmetiklinie Urban Decay, über »jede Anerkennung, die die Kosmetikbranche der Latina-Kultur zukommen lässt«. Jenseits von Anerkennung und Aneignung bleibt der essentialistische und romantisierende Bezug auf die Kultur der Community als solche. Um Sehnsüchte nach Authentizität zu bedienen, lässt sich das Latina-Image durchaus nutzen, weswegen Mersons zunächst merkwürdig klingende Aussage, Latinos seien »Mainstream« durchaus der Zeit entspricht. Durch den Kauf ihrer Kosmetikartikel verheißt sie den Konsumentinnen den Zugang zu einer authentischen, ja heiligen Gemeinschaft: »Die spezifischen kulturellen Verbindungen zwischen unserer Community und unseren Schönheitsgepflogen­heiten und -ritualen sind heilig.«