Im Dezember 1990 begann der Zerfall des albanischen Staatssozialismus

Vom Sozialismus zum Schneeballsystem

Im Dezember 1990 erlaubte die albanische Staatsführung nach wochenlangen Protesten die Gründung unabhängiger Parteien. Damit wurde der Zerfall des Sozialismus in Albanien offiziell besiegelt. Doch die Euphorie der Wende wich bald dem Chaos der Transition.

»Kein Gesetz verbietet die Gründung von Parteien«, erwiderte Ramiz Alia, der Staatschef und Vorsitzende der kommunistischen Partei der Arbeit Albaniens (Partia e Punës e Shqipërisë, PPSh), auf die ungläubige Nachfrage eines verdutzten Studenten im Jahr 1990. Eigentlich hatten die seit Tagen protestierenden Studierenden der albanischen Hauptstadt Tirana ihre Delegation in den Präsidentenpalast entsandt, um politischen Pluralismus zu fordern. Nun stahl ihnen Alia die Show. Im Bürokratenjargon hatte er an diesem 11. Dezember vor laufenden Kameras die Entscheidung des Zentralkomitees verkündet, dass fortan zum »Zwecke der weiteren Demokratisierung des Lebens im Lande die Gründung unabhängiger politischer Organisationen im Einklang mit den bestehenden Gesetzen« erlaubt sei.

Noch in der Nacht wurde in Tiranas Studentenviertel die Demokratische Partei als antikommunistische Sammlungsbewegung gegründet; das Ende der letzten Bastion des Stalinismus in Europa war eingeläutet. Dem vorausgegangen waren Monate, in denen sich Krise, Protest und vorsichtige Reformversuche von oben wechselseitig verstärkt hatten. Erst im Mai war das Verbot der Religionsausübung aufgehoben worden, das seit 1967 mit äußerster Brutalität durchgesetzt worden war. Im Juni hatten Tausende Verzweifelte ausländische Botschaften gestürmt, um ihre Ausreise zu erzwingen. Vier Männer in einem entführten Lastwagen rissen die Mauer der deutschen Botschaft ein, um sich Zugang zu verschaffen. Im Dezember gingen die Studierenden wegen miserabler Lebensmittelversorgung und Stromausfällen in den Wohnheimen auf die Straßen und forderten bald das Ende der Einparteienherrschaft. Zwar konnte die aus der PPSh hervorgegangene Sozialistische Partei bei den ersten freien Wahlen im März 1991 einen Sieg davontragen, doch nur ein Jahr später kam die Demokratische Partei unter Sali Berisha mit überwältigender Mehrheit an die Macht.

Da die Schneeballbanken extrem hohe Renditen von bis zu 30 Prozent auszahlten, investierten viele Albaner:innen große Teile ihrer Ersparnisse in dieses System.

Nach Jahrzehnten der selbstgewählten internationalen Isolation lag die albanische Wirtschaft am Boden, die Landwirtschaft produzierte zu wenig Lebensmittel und ohne ausländische Ersatzteile war die Industrieproduktion kaum aufrechtzuerhalten. Das Vorhaben der kommunistischen Parteiführung, »aus eigener Kraft« zum Indus­trieland aufzusteigen, war gescheitert. Nach und nach hatte das Regime mit allen Verbündeten gebrochen: zunächst mit Titos Jugoslawien (1948), dann mit der Sowjetunion (1960) und dem gesamten Warschauer Pakt (1968), schließlich mit China (1974).

Jeder dieser Brüche ging mit Säuberungswellen einher: »Titoisten«, »Chruschtschowianer« und »Revisionisten« aller Art fielen Schauprozessen zum Opfer. Wie das sowjetische Original entledigte sich auch der albanische Stalinismus so in unregelmäßigen Abständen seiner Mittäter und solcher Unbeteiligter, die das Pech hatten, zur falschen Zeit den falschen Beruf auszuüben oder die falschen Leute zu kennen. Viereinhalb Jahrzehnte währte die Herrschaft der PPSh, die meiste Zeit unter der »eisernen Faust« (so der Untertitel der Biographie von Blendi Fevziu) ihres Vorsitzenden Enver Hoxha. Dessen kommunistischer Partisanenbewegung war es im Zweiten Weltkrieg mit jugoslawischer Hilfe gelungen, das Machtvakuum zu füllen, welches nach dem Abzug der deutschen Wehrmacht entstanden war. Es folgte die Errichtung einer stalinistischen Diktatur, die bis zum Tod des Diktators 1985 keinerlei Liberalisierungstendenzen zuließ.

Bis zur Machtübernahme Hoxhas war Albanien ein Agrarland mit einer Alphabetisierungsrate von 20 Prozent. Bei einem Wirtschaftsanteil der Industrieproduktion von unter fünf Prozent konnte von einem Proletariat im klassischen Sinne keine Rede sein. Die Macht der Kommunisten stütze sich zunächst auf die Bauernschaft im Süden des Landes, die unter den italienischen und deutschen Besatzern im Krieg am meisten gelitten hatte. Den von Clans und Stämmen geprägten Norden des Landes konnten sie dagegen nur schwer unter Kontrolle bringen.

Ein gigantisches Modernisierungsprogramm sollte Albanien innerhalb kurzer Zeit »vom Feudalismus in die Moderne« führen, wie es in der Diktion des Marxismus-Leninismus hieß. Als Vorbild diente die Sowjetunion unter Stalin, deren Methoden peinlich genau kopiert wurden: Die Kollektivierung der Landwirtschaft sollte die Erträge steigern und die Bindung der Bauern an das Land aufheben, die forcierte Gleichstellung der Frauen die Verfügbarkeit von Arbeitskräften erhöhen. Ganze Industriestädte wie Elbasan in Zentralalbanien wurden aus dem ­Boden gestampft, die Bevölkerung wurde alphabetisiert.

Doch diese Fortschritte hatten einen hohen Preis. Die Hoxha-Diktatur verwandelte das Land in ein Gefängnis, dessen Abschottung nach außen immer rigider wurde: Bis zum Fall des Regimes besaßen die meisten Albaner:innen keinen Reisepass, wer das Land dennoch verlassen wollte, musste die Flucht wagen – ein lebensgefährliches Unterfangen, mit dem man zudem die zurückgelassenen Angehörigen in Gefahr brachte. Einen »sozialistischen Menschen« zu formen, erforderte in den Augen der Partei, das Leben der Einzelnen bis in die privatesten Winkel zu kontrollieren. Wohnort, Studium und Beruf hingen von Entscheidungen der Partei ab, wobei die »Abweichung« eines Verwandten oft ausreichte, das eigene Schicksal zu verderben.

Bereits im November 1944 hatte die Jagd auf »Verräter und Feinde des Volkes« (Hoxha auf einer Parteitagsrede 1944) begonnen. Kollaborateure, Sozialdemokraten und innerparteiliche Gegner wurden gleichermaßen exekutiert oder in Lager und Gefängnisse gesperrt. Wer unter den Torturen nicht starb, blieb oft für Jahrzehnte eingesperrt oder als »Volksfeind« gebrandmarkt. Ein weiteres Mittel der Repression war die Verbannung in entlegene Provinzen; meist traf es Angehörige von Menschen, die Parteisäuberungen zum Opfer gefallen waren. Schätzungen der Opferzahlen gehen weit auseinander. Den Historikerinnen Anita Niegelhell und Gabriele Ponisch zufolge lebte gegen Ende des Einparteienstaats zwischen einem Drittel und einem Viertel der Bevölkerung in Gefangenschaft.

Die Euphorie über den Fall der Diktatur wurde bald von der ökonomischen Krise der neunziger Jahre verdrängt. Schlagworte wie »Liberalisierung«, »Privatisierung« und »Rückgabe an die rechtmäßigen Eigentümer« begleiteten hier wie in anderen postsozialistischen Staaten die Zerschlagung der Planwirtschaft und den Ausverkauf von Staats- und Kooperativeigentum. Hunderttausende verloren ihre Arbeitsstellen, wobei mit der Restauration der Eigentumsordnung auch die alten Diskriminierungsmechanismen wiederkehrten: Die Benachteiligung der Roma war im Sozialismus nie ganz aufgehoben worden, nun verloren sie als Erste ihre Arbeitsplätze und wurden unter dem neuen System als Letzte wiedereingestellt.

Aufgrund des mangelhaften Bankensystems entstanden zwischen 1992 und 1997 in Albanien private Kreditbanken, die oft aus Wechselstuben hervorgingen und meist Verbindungen in die Politik und die organisierte Kriminalität hatten. Deren Geschäftsmodell basierte auf dem sogenannten Schneeballprinzip, das nur so lange funktioniert, wie immer neue Anleger immer höhere Summen einzahlen. Da diese Schneeballbanken extrem hohe Renditen von bis zu 30 Prozent nicht nur versprachen, sondern für eine ganze Weile auch auszahlten, investierten viele Albaner:innen große Teile ihrer Ersparnisse in dieses System. Stadtbewohner verkauften ihre Häuser, Bauern ihre Gerätschaften, um das Geld zu investieren. Als das System 1997 kollabierte, versank das Land in bürgerkriegsähnlichen Zuständen.

In ihrer Autobiographie mit dem Titel »Frei« verarbeitet die Londoner Philosophin Lea Ypi ihre Kindheit und Jugend in der albanischen Hafenstadt Durrës. Der Untertitel des Buches, »Erwachsenwerden am Ende der Geschichte«, verweist auf den gravierenden lebensgeschichtlichen Bruch, den der Zusammenbruch des Sozialismus für diejenigen bedeutet hat, die mit ihm aufgewachsen sind. Ypis Eintritt in die Pubertät fiel mit der Wende zusammen. Sie schildert in ihrem Buch, wie für sie neben die allgemeine Verunsicherung der Jugend das Gefühl trat, betrogen worden zu sein – auch von den eigenen Eltern, die erst, als das Regime zusammenbrach, ihre oppositionelle Haltung offenbarten. Betrogen um das Leben überhaupt. Jahrelang verlässt sie kaum ihr Zimmer, weil der Einzug des Kapitalismus sich zuerst in der Ausbreitung von Drogengangs und Schlepperbanden manifestiert. Das Waisenhaus, in dem sie als Freiwillige arbeitet, kann den Ansturm kaum bewältigen. Dann wird das Gebäude an die ehemaligen, vor Jahrzehnten enteigneten Eigentümer zurückgegeben, die es an eine evangelikale Missionskirche verkaufen.

Zehntausende vor allem junge Menschen gingen ins Ausland, viele davon über das Mittelmeer nach Italien. Zur Zeit des Sozialismus riskierte man, vom Regime auf der Flucht erschossen zu werden. Wer es dagegen nach Italien schaffte, konnte sich seines Asylstatus sicher sein. Als 1991 Tausende Alba­ner:innen die im Hafen von Durrës liegenden Schiffe kaperten und Kurs auf Bari nahmen, schloss Italien jedoch die Grenzen. Ankömmlinge wurden in Stadien gesammelt und abgeschoben, Schiffen wurde die Einfahrt in die Häfen verwehrt.

Für Lea Ypi hatte das mediterrane Grenzregime der Europäischen Union hier seine Blaupause: »Die Grenzwachen, die Patrouillenboote, das Einsperren von Migranten und die Repression gegen sie wurde erstmals in diesen Jahren in Südeuropa erprobt und sollte in den kommenden Jahrzehnten zur alltäglichen Praxis werden.« Auch Ypi ging zum Studium ins Ausland. Um Philosophie studieren zu dürfen, musste sie ihrem Vater versprechen, sich von Marx fernzuhalten. Bis zuletzt hatte sich das grausame Regime auf diesen berufen. Ypi stimmte zu, ging – und wurde Marxistin.