Ersatzfreiheitsstrafen werden nur halbiert, nicht abgeschafft

Immer noch Klassenjustiz

Das Kabinett beschließt zum Jahreswechsel eine »historische« Justizreform: Wer eine Geldstrafe nicht bezahlen kann, muss auch weiterhin in den Knast – aber nur noch halb so lange.
Kommentar Von

Strafe muss sein – zumindest in der bürgerlichen Klassenjustiz. In Deutschland gibt es sogenannte Ersatzfreiheitsstrafen: Wer Geldstrafen nicht bezahlen kann, muss stattdessen in den Knast. Die Geldstrafe wird nach Tagessätzen berechnet, wobei sich die Höhe der Sätze am Nettoeinkommen des Bestraften orientieren sollte; ein Tagessatz ist mit einem Tag Gefängnis abgeltbar. Zum Jahreswechsel hat das Bundeskabinett nun beschlossen, diese Ersatzfreiheitsstrafen zu halbieren. Zukünftig soll man mit einem Tag Knast zwei Tagessätze abgelten können.

Es gibt viele gute Gründe für diese Reform, nicht nur menschenfreundliche. Die Ersatzfreiheitsstrafen kosten den Staat viel Geld. Arme Menschen, die Geldstrafen selbst in Raten nicht abzahlen können, machen bereits zehn Prozent der Knastbelegschaft aus. Das Bundesjustizministerium (BMJ) geht davon aus, dass die Landeshaushalte hierfür insgesamt rund 200 Millionen Euro pro Jahr aufzubringen haben. Durch die Reform lasse sich bis zu einem Drittel davon einsparen. Justizminister Marco Buschmann (FDP) spricht von einer »historischen Reform«. Fachleute aus der Justiz, der Zivilgesellschaft und eine Minderheit von Politikern sehen das allerdings etwas differenzierter.

Oberflächlich betrachtet ist es mal wieder ein echtes Kabinettstückchen der »Fortschrittskoalition« (Buschmann): Ohne größeren verwaltungstechnischen Aufwand und lediglich durch eine simple Änderung des Umrechnungsschlüssels lassen sich erhebliche Kosten einsparen. Doch das Prinzip »Knast statt Geldstrafe« bleibt bestehen und weist ins Zentrum der bürgerlichen Klassenjustiz. Es sind die Ärmsten der Armen, die (Sucht-)Kranken, die Arbeitslosen, die Suizidgefährdeten, die wegen eines Bagatelldeliktes, wie zum Beispiel Hehlerei, Ladendiebstahls oder sogenannten Schwarzfahrens, zu einer Geldstrafe verurteilt werden. Die können sie aber nicht bezahlen, weil sie über keine Rücklagen verfügen, manche keine Zustelladresse für einen Strafbefehl haben, nicht wissen, wie sie damit umgehen sollen, oder ihn nicht einmal verstehen, weil sie kaum Deutsch können.

Dass es sich bei dieser Änderung nicht um eine grundlegende Reform handelt, wird auch von Teilen der Rechtswissenschaft nicht übersehen. Der an der Universität von Hannover lehrende Bernd-Dieter Meier argumentiert in der Legal Tribune Online: »Die Verbüßung der Ersatzfreiheitsstrafe ist für den Verurteilten ein deutlich (…) härteres Strafübel als die Zahlung der Geldstrafe, zu der er vom Gericht eigentlich verurteilt worden ist.« Außerdem sei die Ersatzfreiheitsstrafe sogar »härter als die normale Freiheitsstrafe, zu der ihn das Gericht im Hinblick auf die geringe Schwere der Schuld gerade nicht verurteilt hat«, argumentiert der Wissenschaftler. So kann die Ersatzfreiheitsstrafe zum Beispiel im Gegensatz zur normalen Freiheitsstrafe nicht zur Bewährung ausgesetzt werden.

Auch der Deutsche Anwaltsverein (DAV) bedauert in einem Statement, dass das eigentliche Problem nicht in Angriff genommen werde: Ein »echtes Umdenken bleibt aus«. Bereits in der Vergangenheit habe man deutlich gemacht, so der DAV, dass Ersatzfreiheitsstrafen abgeschafft oder zumindest auf Zahlungsunwillige, die aber im Prinzip zahlungsfähig wären, beschränkt werden sollten. Mit der Vollstreckung dieser Strafen gehe unweigerlich eine Diskriminierung armer Menschen einher. Im Besonderen kritisiert der DAV die ausgebliebene Entkriminalisierung der sogenannten Beförderungserschleichung.

Vor 88 Jahren stufte das NS-Regime Schwarzfahren von einer Ordnungswidrigkeit zu einer Straftat herauf. Heutzutage wandern jährlich mehrere Tausend Menschen in den Knast, weil sie die viel zu teuren Tickets nicht bezahlen können, was, wenn sie erwischt werden, erst recht auch für die Bußgelder gilt. Der Berliner Initiative Freiheitsfonds gelang es eigenen Angaben zufolge, seit Dezember 2021 mit mehr als 605 000 Euro an Spenden 637 Personen freizukaufen, 123 Haftjahre abzulösen und dem Staat 6,8 Millionen Euro Haftkosten zu ersparen. Auch in Zukunft wird der Freiheitsfonds genug zu tun haben, trotz der »historischen« Reform.

Die Linkspartei fordert, die Armutsbestrafung endlich abzuschaffen. Für die Juristin und Bundestagsabgeordnete Clara Bünger ist klar, dass durch die Ersatzfreiheitsstrafen »fast nur zahlungsunfähige, von Armut betroffene Menschen« eingesperrt werden. Zuletzt scheiterte 2019 ein Gesetzentwurf der Linkspartei zur Aufhebung der Ersatzfreiheitsstrafen bereits im Rechtsausschuss des Bundestages.