Der tunesische Präsident Kaïs Saïed hat die Parlamentswahl vergeigt

Saïeds desaströser Dezember

Der autoritäre tunesische Präsident Kaïs Saïed sitzt nach einer Parlamentswahl mit nur etwa zehn Prozent Wahlbeteiligung in der Klemme. Die Opposition formiert sich.
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Totgesagte leben länger, auch politisch Totgesagte. Ob das Sprichwort für den autoritären tunesischen Präsidenten Kaïs Saïed gilt, ist indes überaus fraglich. »Sie werden stürzen, das ist unausweichlich«, sagte Hamma Hammami, der Generalsekretär der linken Partei der Arbeiter, am Dienstag an die Adresse des Präsidenten, »wie alle Diktatoren!«

Der vergangene Monat entpuppte sich für Saïed als besonders desaströs, sogar im Vergleich zu seiner vorher bereits von Pleiten, Pech und Pannen geprägten faktischen Alleinherrschaft seit dem 25. Juli 2021, dem Tag, an dem er die Regierung abgesetzt, das Parlament suspendiert und in der Folge per Dekret regiert hatte. Dieser Tag wird in der Präambel der von Saïed eigenhändig geschriebenen Verfassung, die nach einem Referendum mit lediglich circa 30 Prozent Wahlbeteiligung im August 2022 in Kraft trat, wie folgt bejubelt: »Zutiefst von historischer Verantwortung getrieben, waren wir (das tunesische Volk, Anm. d. Red.) damals verpflichtet, den Verlauf der Revolution, sogar den Verlauf der Geschichte zu berichtigen, Mission erfüllt am 25.Juli 2021.«

Gemäß dieser Verfassung und einem neuen, vom Präsidenten initiierten Wahlgesetz fand am 17.Dezember die Wahl eines Parlaments statt, das de facto dem Präsidenten unterworfen ist. Erneut schrieb die tunesische Bevölkerung Geschichte. Diesmal allerdings nicht wie im Januar 2011 mit dem Sturz des autoritären Präsidenten Zine al-Abidine Ben Ali, sondern mit einem der ausgedehntesten offiziell anerkannten Wahlboykotte der Geschichte: Die Wahlbeteiligung betrug lediglich 8,8 Prozent (so die ursprüngliche Angabe der Wahlbehörde) oder 11,2 Prozent (so die spätere Angabe der Wahlbehörde, die auf verbreitete Skepsis stieß, wird sie doch von Anhängern Saïeds dominiert). Das war eine Folge weit verbreiteter politischer Apathie und der Boykottaufrufe fast aller politischen Parteien.

Rund 90 Prozent der Wahlberechtigten verweigerten dem neuen Parlament also die politische Legitimität, und damit auch dem Präsidenten und dessen politischem Plan einer »neuen Republik«, die die Parteien entmachtet und in der präsidialen Diktion korrupten Verrätern, Spekulanten und Verschwörern aller Art das Handwerk legt.

Bereits drei Tage vor der Wahl hatte der Internationale Währungsfonds die für Dezember angekündigte Entscheidung über einen angesichts der klammen Staatskasse Tunesiens dringend benötigten Kredit von 1,9 Milliarden US-Dollar auf einen unbestimmten Zeitpunkt verschoben. Zudem erwies sich ein Besuch Saïeds Mitte Dezember in den USA als PR-Desaster. Die Washington Post schrieb: »Saïed machte fake news für die weit verbreitete westliche Kritik an seinen Schritten zur Stärkung seiner Macht als Präsident verantwortlich und beschuldigte unbestimmte ›ausländische Mächte‹, die ihm zufolge versuchten, Opposition gegen seine Herrschaft zu entfachen.«

In den Parteien wird die Kritik am Präsidenten lauter, Forderungen nach seinem Rücktritt oder seiner Entmachtung wechseln sich ab mit denen nach einer Präsidentenwahl. Symptomatisch war die Rhetorik des für seine Zurückhaltung bekannten ehemaligen Ministers Ghazi Chaouachi, eines Sozialdemokraten, der dem Magazin Le Courrier de l’Atlas zufolge sagte: »Entweder stimmt Präsident Saïed zu, sich an den Verhandlungstisch zu setzen, in welchem Fall wir ihm einen ehrenhaften Abgang sichern können (…), oder er will einen schmutzigen Krieg, einen Abnutzungskrieg, in diesem Fall sind wir bereit, ihn zu führen.«

Am 27. Dezember traf sich zudem Noureddine Taboubi, der Generalsekretär des mächtigen Gewerkschaftsverbands UGTT, mit Bassem Trifi, dem Vorsitzenden der tunesischen Liga für Menschenrechte, und Hatem Mzioni von der tunesischen Anwaltskammer, um, wie es in einer gemeinsamen Erklärung hieß, »eine gemeinsame Sichtweise für die nächste Etappe zu erarbeiten, deren Ziel es ist, das Land zu retten«. Die drei Organisationen hatten – zusammen mit dem tunesischen Unternehmerverband Utica –, 2015 den Friedensnobelpreis erhalten, da sie, so die Begründung, den Demokratisierungsprozess in Tunesien gerettet und einen Bürgerkrieg vermieden hätten.