Netanyahus geplante Justizreform

Entmachtung der Justiz

Die rechte Regierung Israels plant eine umstrittene Justizreform. Oppo­sition, Zivilgesellschaft und ehemalige Richter verurteilen das Vorhaben.

Es dauerte nicht lang: Nur wenige Tage nach der Vereidigung der sechsten Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanyahu kündigte der neu ernannte Justizminister Yariv Levin (Likud) Anfang Januar eine weitreichende Justizreform an, die bisherige Befugnisse des Obersten Gerichts stark einschränken könnte. Das Kernstück der Reform ist eine sogenannte Überwindungsklausel. Das israelische Parlament, die Knesset, soll das Recht erhalten, Gesetzte mit einer absoluten Mehrheit von 61 Abgeordneten zu verabschieden, auch wenn das Oberste Gericht diese Gesetzesvorhaben zuvor für verfassungswidrig erklärt hat. Nur eine einstimmige Entscheidung der Großen Kammer aus allen 15 höchsten Richter:innen könnte dies verhindern. Ein weiteres Ziel Levins ist es, der Regierung eine Mehrheit in dem neunköp­figen Gremium zu verschaffen, das die obersten Richter ernennt: Dort sollen zwei Mitglieder, bislang die von der Anwaltskammer ernannt werden, durch solche ersetzt werden, die das Justizministerium ernennt.

Die Regierungskoalition unter Einschluss von rechtsextremen und ultrareligiösen Parteien unter der Führung von Netanyahu und seiner zunehmend illiberalen Partei Likud sieht ihr Vorhaben durch die Parlamentswahl, aus der sie erst Anfang November hervorging, als demokratisch legitimiert an. Die Opposition wirft der Koalition vor, mit der Reform eine effektive horizontale Gewaltenteilung abzuschaffen, also die Judikative der Exekutive unterzuordnen, den Rechtsstaat zu schwächen und die Demokratie zu gefährden. Zehntausende protestierten am Samstag in Haifa, Jerusalem und Tel Aviv gegen Levins Pläne.

In einem Brief vom 12. Januar prangerten fast alle ehemaligen Generalstaatsanwälte die geplante Reform an, da sie »das Justizsystem zu zerstören droht«. Aharon Barak, langjähriger Oberster Verfassungsrichter und früherer Generalstaatsanwalt (1975 bis 1978) zu Beginn der allerersten Regierungszeit des Likud und Gestalter der »konstitutionellen Revolution«, die ab 1992 dem Obersten Gericht ermöglichte, die Verfassungsmäßigkeit bestimmter Gesetze aus eigenem Antrieb zu überprüfen und gegebenenfalls zu verwerfen, erklärte, die geplante Reform sei der »Anfang vom Ende des modernen Israel«.

Israel hat weder eine formelle Verfassung noch ein Verfassungsgericht, das den Handlungsspielraum des Parlaments einschränkt. Diese Funktion ­erfüllen die sogenannten Grundgesetze (Basic Laws), die schon jetzt mit abso­luter Mehrheit ergänzt werden können. Der Justiz kommt eine herausragende Bedeutung zu, da sie die Vereinbarkeit der Gesetze mit den Prinzipien der Grundgesetze prüft. Im Zuge der Verabschiedung von zwei Grundgesetzen zu Beginn der neunziger Jahre, die Israels Bekenntnis zu Menschen- und Freiheitsrechten institutionalisierten, folgte der Oberste Gerichtshof Baraks Vor­gaben einer Verfassungsrevolution, die Werten wie den Freiheits-, Menschen- und Minderheitsrechten einen normativen Vorrang einräumt. Damit erhielten die Gerichte die Möglichkeit, diese Rechte weit auszulegen und neue Gesetze für ungültig zu erklären, die mit den in den Grundgesetzen festgeschriebenen Rechten unvereinbar sind. Barak vertrat die Auffassung, dass sich der Staat Israel von einer parlamentarischen Demokratie in eine konstitutionelle parlamentarische Demokratie verwandelt habe, da seine Grundgesetze als seine Verfassung zu interpretieren seien. Die Knesset hatte nicht mehr komplett freie Hand bei der Gesetz­gebung.

Insbesondere ultraorthodoxe Israelis sahen ihre Religionsausübung nun durch ein zu säkularen Werten verpflichtetes Oberstes Gericht gefährdet. Die Rechte betrachtet die obersten Rich­ter:innen als übermäßig mächtig und ideologisch kompromittiert, sie seien zu links. Sie hatten in der jüngsten Vergangenheit immer wieder in die Gesetzgebung eingegriffen. Die Regierung würde durch die Reform, die im März wahrscheinlich eine Mehrheit im Par­lament finden wird, kaum mehr einer außerparlamentarischen Kontrolle unterliegen. Das wiegt besonders schwer, weil Israel keine zweite Parlamentskammer besitzt, die bei der Gesetzgebung eingebunden werden müsste.

Umfragen des liberalen Think Tanks Israel Democracy Institute zufolge, die seit 2010 regelmäßig stattfinden, hat sich unter den Befragten stets, und zuletzt im November 2022, eine knappe Mehrheit dafür ausgesprochen, dass der Oberste Gerichtshof die Befugnis haben sollte, von der Knesset verabschiedete Gesetze aufzuheben, die den Grundgesetzen widersprechen. Allerdings wurden beträchtliche Unterschiede zwischen den gesellschaftlichen Gruppen festgestellt: Eine große Mehrheit der säkularen und traditionell nichtreligiösen Befragten sind dafür, dass der Oberste Gerichtshof Gesetze aufheben darf, während sich bei den traditionell religiösen und ultra­orthodoxen Befragten die Mehrheit dagegen ausspricht. Diese Kräfte tragen nun die am weitesten rechts stehende Regierung mit, die Israel je hatte.

In der jüngeren Vergangenheit hatte der Oberste Gerichtshof Entscheidungen getroffen, die den rechten Parteien missfielen, wie die Ablehnung der Befreiung Ultraorthodoxer vom Militärdienst, da diese dem Gleichheitsgrundsatz widerspreche, und die Ablehnung der rückwirkenden Legalisierung von Siedlungen auf palästinensischem Gebiet. Das Gericht hatte 2020 ein Gesetz für ungültig erklärt, mit dem die Regierung 2017 Hunderte von Hektar Land im Westjordanland enteignet hatte. Mit der Justizreform könnte die Knesset diese Urteile mit Hilfe der Überwindungsklausel überstimmen. Die rechtsextremen religiös geprägten Parteien könnten sich durch die weitreichende Kompetenzbeschneidung der Gerichte mehr Spielraum für diskriminierende Maßnahmen gegen die ara­bische oder LGBT-Minderheit erhoffen, befürchten Kritiker. Netanyahu, der sich derzeit selbst wegen des Verdachts auf Korruption und Betrug vor Gericht verantworten muss, war in der Vergangenheit kein Befürworter einer solchen Justizreform. Nun hofft er, durch die Zustimmung zur Reform seine Regierungskoalition zu stabilisieren und sich die Unterstützung der anderen Parteien für Gesetzesvorhaben zu sichern, die ihn vor Strafverfolgung schützen sollen.