Krisenbewältigung und der Übergang zum autoritären Staatskapitalismus

Fahren auf Sicht

Derzeit kommen viele Elemente keynesianischer Wirtschaftspolitik zum Einsatz. Dies könnte den Übergang zu einer autoritären staatskapitalistischen Krisenverwaltung anzeigen.
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Ob stockkonservative Marktjünger oder bieder-sozialdemokratische Gewerkschafter: In Krisenzeiten sind sie alle Keynesianer. Bei jedem Krisenschub der vergangenen Jahre, wenn es mal wieder galt, den dahinsiechenden Spätkapitalismus mittels billionenschwerer Konjunkturprogramme und Gelddruckerei vor dem Kollaps zu ­bewahren, erlebte die Lehre des britischen Ökonomen John Maynard Keynes, dessen nachfrageorientierte Konjunkturpolitik in der Nachkriegszeit bis zur Ablösung durch den Neoliberalismus in den achtziger Jahren ­dominant war, eine flüchtige öffentliche Konjunktur.

Auch nach dem Platzen der transatlantischen Immobilienblase 2008 und dem pandemiebedingten Einbruch 2020 sprach man wieder über Keynes, der als Hofökonom der Sozialdemo­kratie eine aktive Rolle des Staats bei Investitionsprogrammen und eine expansive Geldpolitik propagiert hatte. Nach den üblichen Abnutzungserscheinungen im Medienzirkus verschwindet die Referenz auf Keynes wieder, wenn der Kapitalismus nach der »keynesianischen« Stabilisierungsphase wieder zum business as usual überzugehen scheint.

Die Notenbanken sind zu den ent­scheidenden ökonomischen In­stanzen aufgestiegen, ohne deren Intervention sowohl die Finanz­sphäre als auch die Staats­finan­zie­rung kollabiert wären.

Übrig bleiben jedes Mal die im neo­liberalen Zeitalter aus dem politischen und akademischen Mainstream verdrängten, beständig jammernden Keynesianer, mit denen sich nun die nichtsozialdemokratische Linke herumplagen darf. Doch die andauernde Klage der Neokeynesianer und der Vertreter der Modern Monetary Theory (MMT, zu Deutsch: moderne Geldtheorie), wonach es mehr Keynesianismus brauche, damit alles wieder besser werde und der Spätkapitalismus an die Ära des »Wirtschaftswunders« wieder anknüpfen könne, ist angesichts der politischen Realitäten – gelinde gesagt – deplatziert. Viele Instrumente des Keynesianismus kommen bei der Krisenverwaltung, die das System seit 2008 stabilisiert, weiterhin zum Einsatz, sie werden nur nicht als solche ­bezeichnet und wahrgenommen.

Das ist nur logisch vor dem Hintergrund der historischen Genese dieser ökonomischen Schule: Der Keynesianismus wurde nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zum kapitalistischen Mainstream als die große »Lehre«, die aus der 1929 einsetzenden Krisen­phase zu ziehen sei – und die kapitalistischen Funktionseliten greifen in ­Krisenzeiten quasi reflexartig zu dessen Instrumentarium. Konsequente ­Regulierung der Währungs- und Finanzmärkte, der Staat als wirtschaftlicher Ordnungs- und Leitfaktor, der eine aktive Investitionspolitik betreibt, eine nachfrageorientierte Lohn- und Sozialpolitik, bei der die Lohnabhängigen auch als Konsumenten begriffen werden, und eine kontrazyklische Konjunkturpolitik, die mittels schuldenfinanzierter Konjunkturprogramme ­Rezessionen verhindern soll, um in Boomphasen diese Schulden dann abzutragen – dies waren die idealisierten Grundzüge der keynesianischen Wirtschaftsordnung, bis der Neoliberalismus unter Margaret Thatcher und ­Ronald Reagan dominant wurde; zu dieser Ordnung wollen die Neokeynesianer zurückkehren.

Billiger geht’s nicht

Der pragmatische Rückgriff auf das Instrumentarium des Keynesianismus findet seinen klarsten Ausdruck in all den Konjunkturprogrammen, die im Gefolge der wiederkehrenden Krisenschübe aufgelegt wurden. Da diese immer intensiver wurden, gewannen auch die staatlichen Subventions- und Investitionspakete bei jedem Krisenschub an Umfang, wie die Unternehmensberatungsfirma McKinsey im Vergleich der Weltfinanzkrise 2008/2009 und des ­Pandemieeinbruchs 2020 darlegte. Schon Mitte 2020 summierten sich die globalen staatlichen Krisenaufwendungen auf rund zehn Billionen US-Dollar – das Drei­fache der Krisenprogramme von 2008/2009.

War die Bundesregierung 2008 haushaltspolitisch restriktiv gesinnt und machte nur mit der berüchtigten, klimapolitisch verheerenden »Abwrack­prämie« für Gebrauchtwagen Negativschlagzeilen, legte sie 2020 besonders weitreichende Krisenprogramme auf. In Relation zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) war das deutsche Konjunkturpaket sogar das größte aller westlichen Industrieländer; es belief sich auf 33 Prozent des BIP. Zudem leitete die Regierung unter Angela Merkel auch in der Euro-Zone eine graduelle Abkehr vom Austeritätsregime ein, das die Vorgängerregierung unter derselben Kanzlerin ein Jahrzehnt zuvor durchgesetzt hatte: Mitte 2020 stimmte sie einem EU-Konjunkturprogramm mit einem Volumen von 750 Milliarden Euro zu. Es beinhaltete Hilfszahlungen an die EU-Peripherie von immerhin 390 Milliarden Euro.

Auch bei der Geldpolitik galt bis vor kurzem bei der Europäischen Zentralbank (EZB) und ihrem US-amerikanischen Pendant, der Federal Reserve, die Devise, dass Kredite möglichst billig sein müssten. Die Leitzinsen in der EU und den USA sind im 21. Jahrhundert in der Tendenz immer weiter gefallen. Zwischen 2009 und 2021 herrschte – mit kurzem Unterbrechungen – Nullzinspolitik, um die Konjunktur und ­Finanzmärkte zu stützten. Zudem gingen die Notenbanken nach dem Platzen der transatlantischen Immobilienblase zur bloßen Gelddruckerei über, indem sie zuerst Hypothekenpapiere und später immer mehr Staatsanleihen aufkauften – und so der Finanzsphäre zusätzliche Liquidität zuführten, die zur Inflation der Wertpapierpreise im Rahmen der großen Liquiditätsblase führten, die dann 2020 platzte. Im Laufe des 21. Jahrhunderts haben Federal Reserve und EZB ihre Bilanzsummen nahezu verzehnfacht, sie sind zu Mülldeponien des zum Dauerboom verurteilten spätkapitalistischen Finanzsystems und zu den größten Eigentümern von Schuldtiteln ihrer Staaten geworden.

Hyperaktiver Zentralbankkapitalismus

Die Notenbanken sind somit im Verlauf des Krisenprozesses zu den entscheidenden ökonomischen Instanzen aufgestiegen, ohne deren Intervention sowohl die Finanzsphäre als auch die Staatsfinanzierung kollabiert wären. Es ließe sich von einem Zentralbankkapitalismus sprechen, wie es der Politökonom Joscha Wullweber in seinem Buch dieses Titels tut, in dem er die Abhängigkeit eines Teils der Finanz­sphäre, des weitgehend unregulierten Markts für Rückkaufvereinbarungen (Repos), von der Aufblähung der Geldmengen durch die Notenbanken darstellt. Der derzeit aufgrund hoher Inflationsraten unternommene Versuch von EZB und Federal Reserve, mit der Wende zu einer restriktiven Geldpo­litik die auf mehrere Ursachen (Pandemie, Krieg, geplatzte Liquiditätsblase, stockende Lieferketten, steigende Energiepreise) zurückzuführende Inflation einzudämmen, geht aber nicht zwangsläufig mit einem Ende der Aufkäufe von Staatsanleihen einher.

Der Keynesianismus konnte trotz aller Konjunkturprogramme kein neues Akkumulationsregime aus dem Boden stampfen – und er wird es auch jetzt nicht schaffen.

In der Euro-Zone schuf die Euro­päische Zentralbank mit PEPP (Pandemic Emergency Purchase Programme, zu Deutsch: Pandemie-Notfallkaufprogramm) eigens ein Krisenprogramm in Umfang von 1,85 Billionen Euro, mit dem weiterhin Staatsanleihen aufgekauft werden, was die Inflationsdämpfung durch die gleichzeitigen Leitzinsanhebungen unterminiert und die ökonomischen Spielräume des Staats vergrößert.

Zudem sind inzwischen staatlicherseits konkret Schritte zu einer aktiven Politik wirtschaftlicher Lenkung erkennbar, vor allem im Rahmen des sogenannten European Green Deal. Neoliberale Hardliner klagen inzwischen über die staatlichen Bestrebungen zur ökologischen »Kreditlenkung«, die vor allem in der EU-Taxonomieverordnung zur Definition nachhaltiger ­Investitionen zum Ausdruck kämen – ironischerweise gelten dabei auch ­Investitionen in Erdgas und Atomkraft als nachhaltig. Überdies sprach sich Sven Giegold (Grüne), Staatssekretär im Wirtschaftsministerium, schon vor ­einem Jahr in der Financial Times für eine »aktive Industriepolitik« der Bundesregierung aus, die »Innovationen unterstützen« solle, um aus der BRD eine »ökologische und soziale Marktökonomie« zu machen.

Diese von zunehmender Staatstätigkeit oder zumindest immer stärkerer staatlicher Einflussnahme geprägte Struktur des Krisenkapitalismus folgt aber keiner kohärenten Strategie, sondern bemüht sich lediglich, einen wirtschaftlichen Kollaps während der Krisenschübe verhindern. Es ist ein quasi reflexartiger Keynesianismus der Funktionseliten. Die oftmals als Provisorien eingeführten Notprogramme verstetigen sich dann im Krisenverlauf, sie gerinnen zu neuen Strukturen. Man »fährt auf Sicht«, so der damalige Finanzminister Wolfgang Schäuble über das Agieren der Bundesregierung während der Weltfinanzkrise 2009.

Die aktive Industriepolitik von Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne), für die Giegold in der Financial Times die Werbetrommel rührte, hat ihren Vorläufer in der staatlichen Förderung von »Champions« (für besonders wichtig erachteten Großunternehmen) ­unter seinem Vorgänger Peter Altmaier (CDU), der 2019 aufgrund zunehmender Krisenkonkurrenz und informeller Staatssubventionen in China und den USA auch Deutschlands Exportindus­trie gezielt fördern wollte.

Dieses »Fahren auf Sicht« der Funk­tionseliten in Krisenzeiten, bei dem in Reaktion auf Krisenschübe immer neue Elemente staatskapitalistischer Krisenverwaltung zur Anwendung gelangen, verleiht dieser Formation alle Züge eines Übergangsstadiums zu einer autoritären Krisenverwaltung. Die ökonomischen wie zunehmend auch ökologischen Krisen, die die Politik zum Krisenkeynesianismus nötigen, sind ja nicht Ausdruck einer »falschen« Wirtschaftspolitik, sondern der eskalierenden inneren und äußeren Widersprüche des Kapitalverhältnisses, die sich ganz konkret in dauerhaft schneller als die Weltwirtschaftsleistung steigenden Schulden und einer un­ablässig ansteigenden CO2-Konzentration in der Erd­atmosphäre manifestieren.

Aufgrund eines beständig steigenden globalen Produktivitätsniveaus unfähig, ein neuen industriellen Leit­sektor, ein neues Akkumulationsregime zu erschließen, in dem massenhaft Lohnarbeit verwertet würde, läuft das Weltsystem faktisch immer mehr auf Pump. Der Staat fungiert hierbei durch Gelddruckerei und deficit spending (Kreditaufnahme zur Finanzierung höherer Staatsausgaben) praktisch als letzte Instanz der Krisenverschleppung, nachdem sich spekulative Blasenökonomien (Dotcom-Blase, Immobilienblase, Liquiditätsblase) auf den heißgelaufenen Finanzmärkten weitgehend ­erschöpft haben.

Postkeynesianische Kriegswirtschaft

Das Kapital geht somit in der Warenproduktion seiner eigenen Substanz, der wertbildenden Arbeit, verlustig. Sichtbar wird die aus dieser inneren Schranke des Kapitals resultierende Aporie der kapitalistischen anhand des öden, seit Jahren gepflegten Streits über die Prioritäten der Wirtschaftspolitik zwischen angebotsorientierten Neoliberalen und nachfrageorientierten Keynesianern. Es ist ­immer dieselbe Leier, abgespult in unzähligen Variationen: Der neolibe­ralen Warnung vor Überschuldung und Inflation aufgrund von Konjunktur­programmen halten die Keynesianer die Gefahr einer deflationären Abwärtsspirale, ausgelöst durch Sparprogramme, entgegen.

Beide Parteien haben dabei mit ihren Diagnosen recht, ein Dilemma, das nur durch die Finanzblasenökonomie des neoliberalen Zeitalters überdeckt worden war. Nun, da eine Stagflation, also hohe Inflation ohne wirtschaftliches Wachstum, droht, wird es offensichtlich, dass gerade die Geldpolitik der Notenbanken sich in einer Krisenfalle befindet. Sie müssten der Inflation wegen die Zinsen anheben und zugleich die Zinsen senken, um eine Rezession zu verhindern.

An der Stagflation der siebziger Jahre – zu der das spätkapitalistische Weltsystem auf einem viel höheren Niveau globaler Produktivität und Verschuldung quasi zurückkehrt – ist der Keynesianismus gescheitert. Nach dem Auslaufen des großen Nachkriegsbooms, der von dem fordistischen ­Akkumulationsregime getragen wurde, versagte das keynesianische deficit spending, das nur die Inflation befeuerte. Der Neoliberalismus konnte sich in den achtziger Jahren nur deswegen durchsetzen, weil der Keynesianismus krachend – mit zweistelligen Inflationsraten, häufigen Rezessionen und Massenarbeitslosigkeit – gescheitert war. Wenn abgetakelte Keynesianer wie Heiner Flassbeck, ehemals Staatssekretär im Bundesfinanzministerium unter Oskar Lafontaine (damals SPD), behaupten, dass es nur die Energie- und Ölpreiskrise war, die damals wie ­heute den Krisen- und Inflationsschub auslöste, dann lügen sie sich selbst in die Tasche. Der Keynesianismus konnte trotz aller Konjunkturprogramme kein neues Akkumulationsregime aus dem Boden stampfen – und er wird es auch jetzt nicht schaffen, neue Märkte hervorzuzaubern, bei deren Erschließung massenhaft Lohnarbeit auf dem glo­balen Produktivitätsniveau verwertet werden könnte.

Der Neoliberalismus »löste« seinerzeit das Problem durch das spekulative Abheben der Finanzsphäre und die Finanzialisierung des Kapitalismus, durch Krisenverschleppung in Rahmen einer regelrechten Finanzblasenökonomie, die durch drei Dekaden hindurch dem Kapital eine Art Zombiedasein auf Pump ermöglichte. Das ist auch der fundamentale Unterschied zwischen der Stagflation der siebziger Jahre und der jetzigen Stagflationsphase. Das Ausmaß der Krise ist viel größer – und das lässt sich ganz einfach an der Höhe der Gesamtverschuldung im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung ablesen, die nach Angaben des Internationalen Währungsfonds von rund 110 Prozent zu Beginn des neoliberalen Zeitalters 1980 auf 256 Prozent im Jahr 2020 kletterte.

Dieses Verschuldungsniveau zu ­senken, ist nur um den Preis einer Rezession möglich – also längerfristig ­eigentlich gar nicht. Auf Rezessionen wiederum mit keynesianischen Konjunkturprogrammen zu reagieren, wäre auch ökologisch schlicht Wahnsinn. Die Rezessionsjahre 2009 und 2020 waren die einzigen im 21. Jahrhundert, in denen die CO2-Emissionen im Vergleich zum Vorjahr zurückgingen, doch die oben geschilderten Konjunkturpakete führten in den Folgejahren zu den höchsten relativen Emissionsanstiegen dieses Jahrhundert. Verelendung in der Rezession oder Klimatod? In ­dieser Alternative äußert sich die ökologische Aporie kapitalistischer Krisenpolitik.

Der Keynesianismus mit seinem drögen deficit spending und seiner Staatsgläubigkeit kann die sich zuspitzende innere und äußere Krise des ­Kapitals selbstverständlich nicht lösen, er kann aber den Übergang zu einem neuen Krisenmanagement einleiten. Der Rückbezug auf Keynes kann – gerade bei Funktionseliten, die des Öfteren »auf Sicht« agieren – ein brauchbares Startprogramm zu einer qualitativ neuen Form autoritärer Krisenverwaltung abgeben. Das haben ideologisch avancierte Postkeynesianerinnen, wie die Taz-Redakteurin Ulrike Herrmann, längst begriffen. In ihrem jüngsten Buch über »Das Ende des Kapitalismus« koppelt sie eine weitgehend von der Wertkritik abgeschriebene Darstellung der äußeren Schranke des Kapitals mit einem Bekenntnis zur Kriegswirtschaft, inklusive Zwangsmaßnahmen und Rationierung. Darauf, auf autoritäre, postdemokratische Krisenverwaltung, exekutiert von erodierenden, mitunter offen verwildernden Staatsapparaten, läuft der Krisengang hinaus. Die Keynesianer sind die Claqueure dieser Dynamik.

Der Keynesianismus, der nur aufgrund der absurden Rechtsverschiebung der gesamten politischen Vorstellungswelt mittlerweile links der Sozialdemokratie zu verorten ist und überhaupt als links gilt, verkommt somit faktisch zur Ideologie im Wortsinn: zur Rechtfertigung der drohenden autori­tären staatskapitalistischen Krisenverwaltung, die das genaue Gegenteil der überlebensnotwendigen Emanzipation vom kollabierenden spätkapitalistischem Sachzwangregime wäre.