Bei den Prognosen zur Berliner Wiederholungswahl liegt die CDU vorne

Die Gunst der Randbezirke

In jüngsten Prognosen zur Wahl in Berlin liegt die CDU bei 23 Prozent der Stimmen. Demnach könnte sie zum ersten Mal seit 2001 wieder stärkste Kraft werden. Im Wahlkampf bedient sie vor allem konservative Kulturkampfthemen.

Knapp eineinhalb Wochen vor Wiederholung der Berliner Abgeordnetenhauswahl liegt die CDU in den Umfragen vorne. Nach Wahlprognosen vom ­Wochenende würden die Christdemo­krat:in­nen unter ihrem Spitzenkandi­daten und Landesvorsitzenden Kai Wegner am 12. Februar 23 Prozent erreichen. Es folgen die Grünen und die SPD etwa gleichauf mit 19 Prozent. Es wäre das erste Mal, seit die CDU 2001 bei vorgezogenen Wahlen infolge des Berliner Bankenskandals in der Gunst der Wähler:innen abgestürzt war, dass die Christdemokrat:innen wieder die stärkste Fraktion im Berliner Landesparlament stellen würden.

Damals geriet die landeseigene Bankgesellschaft Berlin, die vorwiegend im Immobiliengeschäft aktiv war, in die Krise. Es stellte sich heraus, dass viele Geschäfte der Bank, die bestens mit der Bauwirtschaft sowie der Berliner CDU vernetzt war, darauf beruhten, dass die öffentliche Hand für eventuelle Verluste einstand.

Forderungen nach Tempo 30 auf innerstädtischen Straßen, der Einrichtung autofreier Zonen in der Stadt und dem Stopp des Weiter­baus der innerstädtischen Autobahn A 100 weist die CDU zurück.

Allerdings wären selbst 23 Prozent noch ein geringerer Stimmenanteil als der, den die CDU 2001 erzielte (23,8 Prozent) – ganz zu schweigen von den 40,8 Prozent, die sie noch bei den Abgeordnetenhauswahlen 1999 erreicht hatte. Es wäre allerdings eine deutliche Verbesserung im Vergleich zu 2021, als sie 18 Prozent der Stimmen gewann. Die Berliner CDU teilt mit anderen Landesverbänden das Problem, dass es der Partei insgesamt mittlerweile schwerfällt, in Großstädten Wahlen zu gewinnen. Und Angehörige kleinbürgerlicher oder proletarischer Milieus gehen oft nicht mehr wählen oder geben ihre Stimme der AfD.

Besonders deutlich machen sich in Berlin die ökonomischen, sozialen und kulturellen Veränderungen der vergangenen Jahrzehnte bemerkbar. Die Kluft zwischen der alten kleinbürgerlichen Frontstadt-CDU, die Westberlin gegen die Kommunisten aus der Sowjetzone sowie gegen Hausbesetzer und linke Studenten verteidigte, und dem hippen, internationalen, linksliberalen Milieu, das seit Ende der neunziger Jahre die Selbstdarstellung und -wahrnehmung der Stadt prägt, könnte größer nicht sein. Zumindest in der Außendarstellung versucht die CDU, diese Kluft zu überwinden, jung und locker zu erscheinen. Der zentrale Werbespot der CDU gipfelt, nachdem er die Probleme aufgelistet hat, unter denen die Bevölkerung der Bundeshauptstadt leidet, in der von der Band Die Ärzte entlehnten Ansprache: »Aber weißt du was, Berlin? Du kannst nichts dafür. Du kannst nur etwas dafür, wenn es so bleibt.«

Inhaltlich legt die CDU die Schwerpunkte ihres Wahlkampfs auf die ver­sagende Infrastruktur und die innere Sicherheit, als Hauptzielgruppe können die Bewohner:innen der Außenbezirke gelten, die außerhalb des Berliner S-Bahnrings leben und etwa 70 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen. Die Konservativen wenden eine Strategie an, die schon die SPD unter Franziska Giffey bei der Wahl 2021 verfolgt hatte. Und wie damals Giffey thematisiert die CDU die Mobilität von Menschen, die nicht in wenigen Minuten zu Fuß eine U- oder S-Bahnstation erreichen, indem sie die autogerechte Stadt pro­pagiert, die ihr Spitzenkandidat Kai Wegner indes eher als menschengerechte Stadt verstehen möchte. Forderungen nach Tempo 30 auf innerstäd­tischen Straßen, der Einrichtung autofreier Zonen in der Stadt und dem Stopp des Weiterbaus der innerstädtischen Autobahn A 100 weist die CDU zurück. »Grüne Ideologie gegen das Auto bringt Berlin nicht voran«, zitiert die Berliner Zeitung Wegner.

Dieses Thema eignet sich, um konservative Wähler:innen anzusprechen, weil es tatsächliche Probleme der Anbindung der Außenbezirke aufgreift und sich auch gut mit Elementen eines Kulturkampfs von rechts verbinden lässt. Indem man die Idee, das Auto als zentrales Fortbewegungsmittel in der Stadt abzulösen, als Ausdruck einer bürgerfernen Verbotspolitik denunziert, bedient man die Vorstellung, dass liberale akademische »Eliten« die Lebenswirklichkeit der »kleinen Leute« aus den Augen verloren hätten.

Bemerkenswert ist, dass CDU und SPD sich in Fragen der Verkehrspolitik kaum unterscheiden. Giffey sprach sich bereits 2021 in einem Interview mit dem Tagesspiegel für eine Angebots- statt einer Verbotspolitik aus. Auch die Forderung, den Ausbau der A 100 abzubrechen, bezeichnete sie damals als »einfach irre«.

Offenbar hoffen die Verantwortlichen der CDU darauf, von der Enttäuschung darüber zu profitieren, dass unter der Regierenden Bürgermeisterin Franziska Giffey wenig Substantielles für die Außenbezirke getan wurde. Die erheblichen Missstände bei der Berliner Verwaltung im Wahlkampf zu thematisieren, ist eine Chance, die sich keine Oppositionspartei entgehen lassen würde – gerade nach dem Wahlchaos 2021. Eine bessere Vorlage, die regierende Koalition der Unfähigkeit zu zeihen, ist kaum denkbar – zumal mittlerweile die ersten organisatorischen Pannen auch bei der Ausrichtung der Wiederholungswahl öffentlich bekannt wurden, zum Beispiel doppelt verschickte Briefwahlunterlagen.

Allerdings ist Kritik an den Berliner Zuständen heikel. Gerade angesichts wiederholter Angriffe westdeutscher CDU- und CSU-Politiker auf das »Berliner Chaos« besteht die Gefahr, den Lokalpatriotismus der Wähler:innen zu kränken. Wegner versucht, das zu vermeiden, indem er, zum Beispiel in der Welt, erklärt, dass Berlin beileibe keine gescheiterte Stadt sei, sondern einfach schlecht verwaltet werde. Dass die CDU in einer weder hippen noch reichen Gegend Berlins auch Wähler:innen gewonnen kann, die nicht zur Stammwählerschaft der CDU gehören, hat der CDU-Generalsekretär Mario Czaja gezeigt, dem es bei der Bundestagswahl 2021 gelang, in Marzahn, einer klassischen Hochburg der Linkspartei, deren Kandidatin Petra Pau das Direktmandat abzunehmen. Allerdings dürfte auch die CDU im Fall einer Regierungsübernahme den kritischen Worten kaum hilfreiche Taten folgen lassen. Die miserable Lage der Berliner Verwaltung ist das Resultat jahrzehntelanger Unterfinanzierung, die auch die CDU mit­zuverantworten hat.

Ernster muss man die Äußerungen Wegners nehmen, die Berliner Polizei moderner auszustatten, beispielsweise mit Bodycams. Eine repressivere Sicherheitspolitik ist das Versprechen, mit dem konservative Parteien weltweit auf soziale Probleme reagieren – und mit dem sie durchaus Wahlerfolge erzielen. Es spricht vieles dafür, dass die CDU ihr Umfragehoch in Berlin auch ihrer Reaktion auf die Angriffe auf Rettungskräfte in der Silvesternacht zu verdanken hat. In der mittlerweile zu trauriger Berühmtheit gelangten Anfrage der CDU-Fraktion im Abgeordnetenhaus nach den Vornamen der in dieser Nacht festgestellten Tatverdächtigen manifestiert sich ein ethnisierender Blick auf diese Jugendgewalt, dem diese als Resultat fremder Kultur und verweigerter Integration erscheint.

Kritik hierfür hagelte es von sämtlichen Seiten. Allerdings ist die Empörung der SPD wohlfeil. Giffey steht für eine zwischen Verwaltung und Polizei abgestimmte und medial eng begleitete Kampagne gegen Gesetzesverstöße in migrantischen Kleinunternehmen in Berlin. Sie hat immer wieder versucht, die »Clankriminalität« als politisches Thema zu besetzen. Beide Parteien agieren so, weil die Erfahrung zeigt, dass derartige Deutungen des Geschehens in von sozialen Unsicherheiten gekennzeichneten Gesellschaften auf fruchtbaren Boden fallen.

Doch selbst wenn die CDU stärkste Kraft werden sollte, wäre es fraglich, ob Wegner Regierender Bürgermeister werden kann. Die politischen Unterschiede zwischen CDU und Grünen sind so groß, dass eine Koalition der beiden Parteien unwahrscheinlich ist, so sie überhaupt eine parlamentarische Mehrheit hätte. Sollten SPD, Grüne und Linkspartei erneut eine Mehrheit der Sitze gewinnen, ist – trotz aller Differenzen – eine Fortsetzung der derzeit regierenden Koalition die wahrscheinlichste Option. Sollten jedoch die Grünen mehr Stimmen erhalten als die SPD, könnten das die Bereitschaft der Letz­teren zu einer Koalition mit CDU und gegebenenfalls FDP steigern.