Simone Schaberts Roman „Rosa in Grau“ über die Schrecken der Nachkriegspsychiatrie

Zerrissenes Leben

Noch immer liegt ein gesellschaftliches Tabu über der Psychiatrie. Die Literatur hingegen wendet den Blick nicht ab, wie der Roman »Rosa in Grau« von Simone Scharbert eindrucksvoll zeigt.

Es ist ein gutes Gefühl: »Wie ich Masche um Masche von der einen ­Nadel auf die andere hebe, die Wolle durchziehe, wie aus einzelnen Fäden ein Kleidungsstück wird.« Was einst ein Ganzes ergab, erweist sich in der Gegenwart nur noch als fragmentierte Erinnerung an bessere Zeiten. Denn das Gewebe ist längst ausgefranst, der zarte Stoff rissig. Näherei, Sticken, Handarbeiten – in Simone Scharberts Roman »Rosa in Grau« bilden sie das Leitmotiv und sind das letzte Refugium der Hoffnung. Lässt sich die auseinanderdriftende Welt doch noch einmal zusammenflicken? Gemeint ist vor allem jene kleine ­einer jungen Frau, die in den Nachkriegsjahren mit der Diagnose ­Schizophrenie in die psychiatrische Anstalt Eglfing-Haar bei München eingeliefert und mittels Elektrokonvulsionstherapie behandelt wird. Als sehr viel heilsamer aber erweist sich die Kunsttherapie. Ein Patient malt, eine andere stickt Bilder, und die Protagonistin übt sich in der Narration. »Ich male Wörter, die man kauen, die man lutschen, die man ­hinunterschlucken kann (…) Ich male mich, ein Loch, eine Lücke, eine Leerstelle.«

Wie nicht wenige Frauen, die sich nicht in die Rolle fügen, die die postnazistische Gesellschaft für sie vorgesehen hat, ist die Erzählerin in Simone Scharberts Roman gezwungen, ihr Leben in der Anstalt zu fristen.

Anfang der fünfziger Jahre ist die Institution der Psychiatrie noch von der Zeit des Nationalsozialismus geprägt. »Die personelle Kontinuität war ungebrochen«, schreibt der Humanmediziner Karl-Heinz Beine. »Von wenigen Ausnahmen abgesehen betrieben dieselben Ordinarien und Chefärzte unter der Flagge der freiheitlich-demokratischen Grund­ord­nung nach 1945 dieselbe Psychiatrie wie zuvor für Führer, Volk und Vaterland. Mit einer Ausnahme: Die Krankenmorde waren gestoppt.« Auch die Anstalt Eglfing-Haar, Schauplatz des Romans, spielte im »Dritten Reich« eine unrühmliche Rolle. Mehr als 2 000 Patienten und Pati­entinnen sollen neueren Recherchen zufolge zwischen 1940 und 1944 in der Heil- und Pflegeanstalt ermordet worden sein. Insbesondere die beiden »Hungerhäuser«, in denen mehr als 400 Patienten an vorsätzlicher Mangelversorgung starben, waren berüchtigt.

Wie nicht wenige Frauen, die sich nicht in die Rolle fügen, die die postnazistische Gesellschaft für sie vor­gesehen hat, ist die Erzählerin in ­Simone Scharberts Roman gezwungen, ihr Leben in der Anstalt zu fristen. Monotone Abläufe strukturieren den Alltag der Protagonistin. Unentwegt berichtet sie von den Begegnungen mit anderen Patienten und Patientinnen, spricht über das Verrinnen der Zeit und hält Zwiesprache mit dem Mädchen Rosa, das niemand außer ihr zu sehen scheint. Eine Milchglasscheibe trennt die Erzäh­le­rin von der übrigen Welt.

»Irre ist weiblich« lautete der Titel der 2004 von Bettina Brand-Claussen und Viola Michely kuratierten Ausstellung, die Scharbert in ihrem Nachwort erwähnt und die als Inspiration für den Roman diente. Die auf den Beständen der Sammlung Prinzhorn basierende Ausstellung zeigte Arbeiten von Psychiatriepatientinnen, die um 1900 ihrer Seelenqual künstlerischen Ausdruck verliehen haben.

Der Kunsthistoriker und Mediziner Hans Prinzhorn stellte als Assistent an der Heidelberger Psychiatrischen Klinik über 5 000 Kunstwerke von Patientinnen und Patienten zusammen. 1922 veröffentlichte er den Band »Bildnerei der Geisteskranken«, der zahlreiche Bildende Künstler beeinflusste, darunter Paul Klee und Picasso. Aber lediglich 20 Prozent der in der Sammlung Prinzhorn vertretenen Werke stammten von ­Frauen, obgleich diese um 1900 mehr als die Hälfte der Insassen in den ­Anstalten ausmachten. Ihre Werke, darunter Briefe, Zeichnungen, Tex­­til- und Bastelarbeiten, wurden vermutlich von den Anstaltsärzten schlicht übersehen und nicht an die Sammlung gegeben. Die Ausstellung »Irre ist weiblich« sowie der dazugehörige Katalog stellen die verkannten künstlerischen Arbeiten von Frauen in der Psychiatrie um 1900 erstmals in den Vordergrund.

Von der Absurdität, die so manche Texte über Heime prägen, spürt man im Roman »Rosa in Grau« nichts. Während Klassiker wie Friedrich Dürrenmatts Drama »Die Physiker« (1962) satirisch die Verrücktheit von den Insassen auf die Therapeuten übertragen hat und sich in karikaturistischen Zerrbildern des eigenwil­ligen Therapeutensoziotops ergeht, bedient sich Scharbert eines durchweg ernsten, bisweilen mit erfrischendem Pathos angereicherten Stils. Vielleicht weil es der 1974 in Aichbach geborenen Politikwissenschaftlerin tatsächlich um ein intensives Verstehenwollen geht, liegt doch ihr Augenmerk insbesondere auf den zahlreichen bis heute kaum beachteten Frauen, die kurz nach dem Zweiten Weltkrieg keinen Platz in der Mehrheitsgesellschaft gefunden haben und in psychiatrische Einrichtungen gerieten, in denen oft noch die Luft aus den Zeiten des Nationalsozialismus stand.

Zuverlässig eröffnen Psychiatrieromane versteckte Räume, mal in der Geschichte, mal in unergründlichen Persönlichkeiten. Da die Einrichtungen Orte des Anderen und Unwägbaren bilden, bergen sie einen Schatz voller Erzählungen. Man denke etwa an die Arbeit der expressionistischen Autorin Unica Zürn oder die erst in den vergangenen Jahren von Literaturbetrieb und Publikum wiederentdeckten Texte von Christine Lavant. Wie produktiv sich die ansonsten zumeist schwierige Zeit in Häusern zur Behandlung psychischer Erkrankungen auswirken kann, zeigt sich auch in Romanen der Gegenwart. Insbesondere Benjamin Maacks ebenso komplexe wie berührende Chronik einer Depression »Wenn das noch geht, kann es nicht so schlimm sein« (2020) beschreibt er auf überzeugende Weise seine inneren Kämpfen. Zwar bekennt er: »Ich habe aufgehört, meiner Sprache zu vertrauen. Meine Sprache hat aufgehört, Sinn zu enthalten.« Gleichwohl vermag er seiner Befindlichkeit ästhetisch Ausdruck zu verleihen. Ganze Buchseiten bleiben leer, manchmal taucht darauf nur die Frage »Wie geht es Ihnen, Herr Maack?« oder schlichtweg das Wort »Funktionieren« auf. Obwohl die Ideologie der Leistungsgesellschaft mit diesem Begriff noch in den tiefsten Windungen der Psyche vordringt, offenbart sich die Anstalt immerhin noch als letztes Refugium, als eine Art Gegenwelt zum beklemmenden Draußen, in der man stabilisiert wird durch Tabletten und sich beinah ­rituell wiederholende Gesprächen. Von Clemens J. Setz’ »Die Stunde zwischen Frau und Gitarre« (2015) bis hin zu Moritz Franz Beichls »Die Abschaffung der Wochentage« (2022) hat man es mit Büchern zu tun, die vor allem Wertschätzung für die Charaktere samt ihren Vorbelastungen und nie einfachen Hintergründen aufbringen. Was sie durchgemacht haben, ist der Stoff, aus dem individuelle Geschichten, weit abseits des sogenannten Normalen, hervorgehen.

Damit gelingt den Autoren und Autorinnen eine Enttabuisierung psychischer Krankheiten sowie der Stätten zu ihrer Heilung. Gemein ist ihnen dabei die Kritik an der Institution Psychiatrie. Viele Strukturen werden als anonym geschildert, der Alltag zwischen Anwendungen und Warten ist quälend. Und je mehr man sich mit den mal abwegigen, mal traurigen Biographien der Protagonisten befasst, desto mehr drängt sich die Frage auf, wo das Normalsein aufhört und das Irresein beginnt.

Simone Scharbert: Rosa in Grau. Eine Heimsuchung. Edition Azur, Berlin 2022, 184 Seiten, 22 Euro