Verhaftungswelle in Tunesien

Der Präsident lässt verhaften

Seit dem Wochenende wurden bereits neun prominente Kritiker des Präsidenten Kais Saied festgenommen.
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Mindestens neun Leute wurden von den frühen Morgenstunden des Samstags bis Montagabend in Tunesien von der Polizei fest­genommen; sie verbindet nicht viel, außer dass sie keine Anhänger des autoritären Präsidenten Kaïs Saïed sind. Darunter befinden sich Noureddine Bhiri, ein hochrangiger Kader der islamistischen Partei al-Nahda, der von 2011 bis 2013 als Justizminister fungiert hatte; der Journalist Noureddine Boutar, Generaldirektor des größten tunesischen Privatradios Mosaïque FM, in dem auch Regierungskritiker zu Wort kommen; der Politiker und Geschäftsmann Kamel Letaïef, der bereits unter dem 2011 gestürzten autoritären ­Präsidenten Zine al-Abidine Ben Ali eine Art graue Eminenz darstellte und über gute Kontakte im Polizeiapparat verfügt; Lazhar Akremi, der als Anwalt Oppositionelle vertritt; die auf Veranlassung des Präsidenten suspendierten Richter Taïeb Rached und ­Béchir Akremi; Khayam Turki von der sozialdemokratischen Partei Ettakatol – einmal quer durch den oppositionellen Gemüsegarten gewissermaßen. Welche Vorwürfe offiziell gegen die Festgenommenen vorgebracht werden, war zunächst nicht klar, lokalen ­Medien zufolge wird ihnen eine Verschwörung gegen die Sicherheit des Staats zur Last gelegt.

Das frankophone tunesische Nachrichtenportal Business News machte direkt den Präsidenten für die Festnahmen verantwortlich und schrieb am Dienstag: »Kein Minister würde es wagen, gegen so viele Persönlichkeiten am Wochenende vorzugehen ohne Anordnung der Staatsanwaltschaft und ohne solide Gerichtsakten.« Bereits tags zuvor hatte sich der Anwalt von Khayam Turki und ehemalige Politiker der eher säkularen Partei Nidaa Tounès, Lazhar Akremi, im Radio sehr kritisch geäußert: »Die Festnahmen, die stattgefunden haben, erinnern mich an Opfergaben für eine ­zornige Gottheit.« Er fügte hinzu: »Was ich weiß, ist, dass Khayam Turki eine Reihe politischer Treffen daheim organisiert hat und dass er Persönlichkeiten eingeladen hat, um zu versuchen, die Opposition zu sammeln, was den Zorn Kaïs Saïeds verursacht hat.«

De facto hat der autoritäre Präsident die Gewaltenteilung abgeschafft und seit seinem Putsch im Juli 2021 bereits des Öfteren vermeintliche Verschwörer, Spekulanten und Verräter inhaftieren lassen. Nur zu Verurteilungen kam es in der Regel nicht. Nun beginnt das große Rätselraten: Werden in den kommenden Tagen weitere Verhaftungen vorgenommen? Was geschieht mit den bereits Inhaftierten? Welchen Zweck hat die ganze Operation? Geht es ganz simpel um Ablenkung von den für Kaïs Saïed wenig erfreulichen Ereignissen der vergangenen Wochen?

Am 29. Januar hatte die zweite Runde der von Kaïs Saïed angeleierten Parlamentswahlen stattgefunden, erneut lag die Wahlbeteiligung nach offiziellen Angaben lediglich knapp über elf Prozent. Saïeds autoritäres politisches Projekt wird also von fast 90 Prozent der Wahlberechtigten abgelehnt. Bereits kurz vor der Wahl hatte die Rating-Agentur Moody’s Tunesien auf Caa2 mit negativem Ausblick herabgestuft, einen Schritt vor dem Bankrott. Weder ­politisch noch ökonomisch hat der Präsident in den anderthalb Jahren seit dem Putsch etwas erreicht.