Nach der Pandemie ist in der Pandemie
»Nach meiner Einschätzung ist die Pandemie vorbei«, ließ der Virologe Christian Drosten Ende Dezember 2022 im Interview mit dem Tagesspiegel verlauten. In den meisten der anschließenden Berichte kamen Drostens einschränkende Hinweise auf weitere endemische Wellen oder die langfristige Schädigung des Immunsystems von Kindern nicht mehr vor. Die Deutung entspringt auch einem Wunschdenken. Stattdessen sollte die Grundthese des Interviews selbst auf die Probe gestellt werden: Wenn wie in Deutschland etwa 100 Menschen pro Tag an Covid-19 sterben, Kanada 2022 mehr Covid-19-Todesopfer zu verzeichnen hatte als in den beiden Jahren zuvor, die Gesundheitssysteme sich mehr im als vor dem Kollaps befinden, neue immunevasive oder noch ansteckendere Virusmutationen wie XBB.1.5 in den USA sich ausbreiten, die Pandemie aber vorüber ist – gab es dann jemals eine Pandemie?
Die Frage wirkt polemisch überspitzt – und karikiert doch nur die herrschende Hoffnung auf eine bessere Vergangenheit. Zu verarbeiten, was wirklich geschehen ist – der vermeidbare Tod von Millionen Menschen, die verbrecherische Ungleichheit bei der globalen Impfstoffverteilung, das Erreichen von Herdeninvalidität statt -immunität, die Mutation von öffentlicher Gesundheitspolitik zum rationalen Management von Infektionsgeschehen mit eugenischem Flair, die Denunziation von Gesundheitsschutz als privater Spleen der Schwächeren –, kann von niemandem verlangt werden. Wer es versucht, gefährdet die eigene Funktionsfähigkeit.
Forderungen nach Eliminierung oder konsequenter Eindämmung des Virus kamen, in der deutschen wie österreichischen Öffentlichkeit, als wissenschaftliche Position kaum vor.
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