Das Assad-Regime versucht, das katastrophale Erdbeben in Syrien und der Türkei für sich zu nutzen

Notfallhilfe als Druckmittel

Nach dem katastrophalen Erdbeben in der Türkei und Syrien sind Millionen Menschen auf internationale Lieferungen angewiesen. In Syrien versucht der Diktator Bashar al-Assad, die Notlage zu nutzen.

Drohnenaufnahmen zeigen einen Riss, der sich durch die Landschaft der Südosttürkei, über Straßen, Felder und Hügel hinweg, bis zum Horizont hinzieht. Das katastrophale Erdbeben der Stärke 7,8 in der Nacht vom 5. auf den 6. Feb­ruar mit bislang über 37.000 Todesopfern fällt in eine ohnehin besonders angespannte Zeit. Der Ausgang der kommenden türkischen Wahlen – falls sie denn wie vorgesehen am 14. Mai stattfinden –, von dem das politische Überleben von Präsident Recep Tayyip Erdo­ğan abhängt, ist ungewisser denn je. Und dabei geht es nicht nur um Erdoğan, sondern auch um die Entwicklung der türkischen Republik genau 100 Jahre nach ihrer Ausrufung.

Im Norden Syriens hat das Erdbeben ein Gebiet getroffen, in dem die humanitäre Situation ohnehin schon katastrophal ist. In der Region um Idlib drängen sich nach UN-Angaben über vier Millionen Menschen, drei Viertel davon syrische Binnenflüchtlinge, die vor dem Regime von Präsident Bashar al-Assad geflohen sind. Über 90 Prozent dieser Menschen sind auf internationale Hilfe angewiesen, die von den UN immer nur gerade so weit geleistet wird, dass die eigentlich nicht haltbare Lage im Rebellengebiet Idlib Jahr um Jahr fortbesteht.

Nach dem Erdbeben forderte Syriens Außenminister Faisal Mekdad, Hilfe solle nur über Damaskus angeliefert werden.

Östlich von Idlib liegt Aleppo im vom syrischen Regime kontrollierten und vom jahrelangen Krieg verheerten Gebiet. Die Regierung Assad ist seit Jahren weder willens noch in der Lage, in den Wiederaufbau zu investieren, auch hier sind die meisten Menschen hilfsbedürftig. Vom Erdbeben stark ­betroffene südtürkische Gebiete, zumal die Stadt Gaziantep und die Provinz Hatay, bilden wiederum genau die grenznahe Region, in der viele der über 3,5 Millionen syrischen Flüchtlinge in der Türkei leben.

Das Erdbeben hat plötzlich international in Erinnerung gerufen, dass der Krieg in Syrien vor ein paar Jahren einfach eingefroren worden ist, ohne eine Lösung oder auch nur Hoffnung für die syrische Bevölkerung. Im Grunde waren alle beteiligten internationalen Kräfte wie auch das Assad-Regime froh, als der Krieg aus den Schlagzeilen verschwand. Seitdem sind Millionen von Syrern zu einem perspektivlosen Leben als Flüchtlinge verdammt, abhängig von einer über die Jahre spärlicher fließenden humanitären Hilfe. Die Erdbebenkata­strophe verändert diesen Status quo. Die militärische und politische Schwächung Russlands – und damit auch ­seiner Position in Syrien – seit dem Angriff auf die Ukraine sowie die tiefgreifende Krise der Islamischen Republik Iran tun das Ihre dazu.

In einer Hinsicht dürfte sich bereits kurzfristig zeigen, inwieweit das Erdbeben das längst bestehende politisch-humanitäre Desaster in Syrien beeinflussen wird: Es geht um den Zugang für UN-Hilfe in das Gebiet um Idlib. Hier zeigt sich seit Jahren eine der furchtbaren Folgen der faktischen Kapitulation der UN vor Assad mit seiner Forderung, seine vermeintlichen Souveränitätsrechte mehr oder minder bedingungslos anzuerkennen. Mit der Hilfe Russlands und Chinas im UN-Sicherheitsrat hat Assad während des Kriegs nicht nur humanitäre Hilfslieferungen der UN an ihm missliebige Teile der Bevölkerung unterbunden. Er hat auch die humanitäre Versorgung der Menschen in Idlib und in den kurdisch kontrollierten Gebieten mit Russland zusammen zu einem erpresserischen Spiel ausgestaltet, das nicht zuletzt seine Kassen füllt.

Deshalb fordert Assad nun, dass die UN-Hilfe nur über die Hauptstadt Damaskus abzuwickeln sei und komplett durch die von dort kontrollierten Ge­biete zu fließen habe. Das bedeutet nicht nur, dass die Hilfsgüter bei von Assad benannten Kaufleuten eingekauft werden müssen, sondern versetzt ihn auch in die Lage, den Rebellen weitere Ressourcen zu entziehen. Mittlerweile gibt es Untersuchungen über den systematischen Missbrauch von UN-Hilfe und Hilfsgeldern sowie über die daran hängende unglaubliche Korruption in Syrien, beispielsweise einen Bericht der Menschenrechts-NGOs Obsalytics und SLDP vom Oktober über syrische regimetreue Firmen, Lieferanten und Dienstleister, mit denen die UN zusammenarbeiten.

Entsprechend forderte Syriens Außenminister Faisal Mekdad kurz nach dem Erdbeben erneut, Hilfe solle nur über Damaskus angeliefert werden. Der Zusicherung, solche Transporte könnten auch nach Idlib gehen, folgte Tage später die plötzliche Absage eines bereits genehmigten Transports. Es ist die übliche Hinhaltetaktik Syriens. In einem offenen Brief an die UN hatten bereits 2014 Experten für internationales Recht darauf hingewiesen, dass aus völkerrechtlicher Sicht humanitäre Hilfslieferungen durch die UN auch ohne Erlaubnis aus Syrien und über nicht vom Regime kontrollierte Grenzen zulässig seien. Trotzdem hatten sich die UN dafür entschieden, allen diesbezüglichen Forderungen Russlands und Syriens nachzugeben.

Hilfslieferungen der UN nach Idlib und in den kurdischen Nordwesten sind üblicherweise nur noch über den Grenzübergang Bab al-Hawa aus der Türkei erlaubt, und diese Erlaubnis muss jährlich neu verhandelt werden. Die Straße war wegen der Erdbebenschäden zunächst nicht passierbar, Idlib also von Hilfe abgeschnitten. Erst eine Woche nach der Katastrophe erklärte Assad sich bereit, zwei weitere Grenzübergänge zu öffnen, wie UN-Generalsekretär António Guterres nach einer geschlossenen Sitzung des UN-Sicherheitsrats am Montagabend bekanntgab. Demnach würden die beiden Grenzübergänge zwischen der Türkei und Nordwestsyrien, Bab al-Salam und Al Ra’ee, »für einen Zeitraum von zunächst drei Monaten geöffnet, um die rechtzeitige Bereitstellung humanitärer Hilfe zu ermöglichen«. Frühere Versuche, andere humanitäre Routen zu öffnen, waren dem Guardian zufolge von Russland und China mit einem Veto belegt worden, mit der Begründung, eine solche Bewegung ohne Assads Zustimmung würde die Souveränität des Regimes in Damaskus untergraben.

Der Einsatz bei diesem zynischen Spiel ist die Grundversorgung mehrerer Millionen Menschen. Der Preis für Assads Entgegenkommen besteht seit langem im Anteil an der internationalen Hilfe, die Syrien abkassiert – durch absurde Wechselkurse ist jahrelang mindestens die Hälfte aller internationalen Hilfsgelder vom Regime vereinnahmt worden, wie eine Studie des amerikanischen Think Tank CSIS von 2021 belegt.

Das Versagen der sogenannten internationalen Gemeinschaft in Syrien hat mit dem Erdbeben einen neuen Höhepunkt erreicht. Eine Woche nach dem Erdbeben, als in Damaskus schon die Hilfsflugzeuge gelandet waren und Hilfsgüter in das vom Regime kontrollierte Gebiet brachten, hatten erst rund 20 LKW UN-Hilfsgüter über den Grenzübergang aus der Türkei nach Idlib transportiert. Neu war allerdings, dass der oberste UN-Nothilfekoordinator, Martin Griffith, das Versagen in einem Tweet eingestand und den Menschen in Nordsyrien bekundete, sie fühlten sich zu Recht verlassen.

Es bleibt die Frage, wie groß der Druck des Elends werden müsste, um auf ­Assads und Russlands Zustimmung zu Hilfslieferungen zu verzichten. Die UN allein werden das kaum entscheiden können, de facto ist der hier entscheidende Sicherheitsrat durch die Konfrontation Chinas und Russlands mit den westlichen Staaten blockiert. Einzelne Länder können diese Blockade allerdings umgehen; so hat unter anderem Saudi-Arabien einen Hilfskonvoi über die türkische Grenze geschickt. Zuletzt hat der US-amerikanische Außenminister Antony Blinken Assad aufgefordert, die Lieferung humanitärer Güter über die türkische Grenze nicht mehr zu behindern, ebenso wie die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock bereits kurz nach dem Erdbeben.

Solche Appelle stoßen bei Assad oder Putin jedoch auf taube Ohren. Letztlich scheinen auch westliche Mächte lieber ein paar Hunderttausend in Zelten lebende Syrer mehr in Kauf zu nehmen als eine Veränderung des Status quo. Vielleicht wird das Erdbeben noch nicht genug sein, um wirklich Bewegung in die Verhältnisse zu bringen, völlig starr sind sie aber nicht mehr. Und eines sollte klar sein: Dieses Jahr könnten sehr viele Syrer nach Europa aufbrechen. Vielleicht wird ja das helfen.