Jaime Borda vom Netzwerk Red Muqui über die andauernden Demonstrationen in Peru

»Sie lassen sich ihr Recht auf Protest nicht nehmen«

Amtsenthebung und Verhaftung des linken Präsidenten Pedro Castillo im Dezember lösten Proteste aus, die bis heute andauern. Die Protestierenden fordern unter anderem Neuwahlen und eine verfassungsgebende Versammlung. Jaime Borda, Politikwissenschaftler und Koordinator der entwicklungspolitischen und bergbaukritischen NGO Red Muqui, kritisiert die harte Repression und plädiert für einen politischen Dialog.
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Seit mehr als zwei Monaten toben in Peru Proteste, ausgelöst durch die Amtsenthebung und Verhaftung des linken Präsidenten Pedro Castillo im Dezember. Eine Lösung des Konflikts zwischen Regierung und Bevölkerung ist nicht in Sicht. Warum hat die Mehrheit der Parlamentarier den Antrag der Präsidentin Dina Boluarte auf Neuwahlen noch in diesem Jahr abgelehnt?

Die Parlamentarier agieren genauso wie Boluarte in eigenem Interesse und nicht in dem des Lands. Das Parlament hat mit seiner Entscheidung vom 2. Fe­bruar, vorgezogene Neuwahlen zu verweigern, einen Ausweg aus der politischen Krise blockiert. Unstrittig ist, dass Wahlen noch in diesem Jahr die verfahrene Situation zumindest beruhigen könnten. Dafür hatte die Regierung ­einen Gesetzesantrag eingebracht, der abgelehnt wurde. Nun bleibt theoretisch noch die andere Option: der Rücktritt Boluartes. So könnte Parlamentspräsident José Williams ihr Amt übernehmen und Neuwahlen ausrufen. Doch diese Möglichkeit ist für Boluarte nicht annehmbar – sie hält an ihrem Amt fest. Letzte Woche hat Boluarte aber Allparteiengespräche initiiert, um gemeinsam mit allen Parteivorsitzenden, aber auch Anführern von sozialen Organi­sationen und Gewerkschaften eine Lösung zu finden.

»Ein Konzept, wie sich Reformen einleiten ließen, die Politik an Glaubwürdigkeit gewinnen könnte, gibt es nicht.«

Unterdessen vergeht kein Tag, an dem nicht protestiert wird, Straßen blockiert werden und die Polizei ­repressiv gegen die Demonstranten vorgeht.

Am Sonntag gab es wieder eine ganze Reihe von Festnahmen und mehrere Verletzte. Die Proteste in der Hauptstadt Lima und ihrer Umgebung halten genauso an wie die im Süden des Lands, in Regionen wie Puno, Apurímac oder Cusco und anderen Provinzen. Anders als in den Wochen zuvor scheinen sie aber auch im Zentrum und im Norden Perus an Kraft zu gewinnen. Die Proteste ebben jedenfalls nicht ab, wie einige Politiker hofften.

Wollen die Regierung und das Parlament den Konflikt aussitzen?

Ich denke, das ist das Kalkül der Exekutive und der Legislative, allerdings wird es wohl nicht aufgehen. Die Demons­trierenden haben sich auf viele Wochen eingestellt. Diejenigen, die die Proteste in die Hauptstadt tragen, wechseln sich beim Demonstrieren ab und werden durch frische Kräfte aus dem Süden Perus verstärkt. Dadurch sorgen die Organisationen im Hintergrund der Proteste, oft sind es Gemeinden, seltener politische lokale Organisationen dafür, dass die Erschöpfung der Demonstrantinnen nach mehr als zwei Monaten nicht überhandnimmt. In Lima haben sich Studenten, aber auch Menschen aus dem umliegenden ­Armutsgürtel angeschlossen. So können Demonstranten ausgetauscht und Straßensperren erneuert werden. Für diese Woche sind wieder Protestmärsche angekündigt.

Vor allem im Süden ist die Wirtschaft nahezu zusammengebrochen. In Cusco kam der Tourismus zeitweilig zum Erliegen, in Puno sind ­Lebensmittel knapp. Bremst das den Protest?

Die Proteste begannen spontan im Süden des Lands und waren nicht organisiert. Allerdings ist es kein Zufall, dass sie dort begannen. Die Menschen im Süden Perus haben in den letzten Jahren immer für Reformen gestimmt – für einen linken Wandel. So auch bei den jüngsten Wahlen im Jahr 2021, bei denen Pedro Castillo die Präsidentschaft gewann. Er steht für einen Wechsel zugunsten von Kleinbauern, für bessere Bildung und soziale Reformen – darunter auch die des Gesundheitssystems. Der Süden Perus steht für den Widerstand, für die Ablehnung des auf Ressourcenausbeutung basierenden ökonomischen Modells und für die Forderung nach einer Politik zugunsten der Bevölkerung.

Die Absetzung Castillos hatte also dort einen großen Effekt?

Ja, ein über Jahre angestauter Unmut brach aus. Die Proteste verstärkten sich noch, weil die Sicherheitsbehörden sehr repressiv gegen sie vorgingen. Wir haben in Peru seit den bürgerkriegsähnlichen Konflikten und dem schmutzigen, brutalen Vorgehen gegen die marx­istisch-leninistische, maoistische und terroristische Guerillaorganisation Sendero Luminoso (Leuchtender Pfad) und die indigene Untergrundbewegung der Movimiento Revolucionario Túpac Amaru in den achtziger und neunziger Jahren nie wieder ein derartiges ­Niveau von Gewalt gesehen. Es hat seit Beginn der derzeitigen Proteste bereits rund 60 Tote gegeben, oft wurden die Opfer gezielt erschossen, und viele Verletzte. Schätzungen kommen auf 1 200 teils schwer Verletzte. Trotz des Ausnahmezustands, der über große Teile des Landes verhängt wurde, lassen sich die Menschen ihr Recht auf Protest nicht nehmen. Der Ausnahmezustand wird unterlaufen und ignoriert.
Die Kernforderungen der Protes­tierenden scheinen Regierung, Abgeordnete, das politische Esta­blish­ment partout nicht erfüllen zu ­wollen.

Die Demonstranten fordern nach wie vor den Rücktritt der Präsidentin, teilweise auch die Rückkehr Pedro Castillos, die Schließung des Kongresses, Neuwahlen und eine verfassunggebende Versammlung. Wir brauchen politische Lösungen, den Dialog zwischen den unterschiedlichen Beteiligten. Daran führt kein Weg vorbei.

Aber gibt es denn die Bereitschaft zum Dialog? Es hat nicht den Anschein.

Die Bereitschaft zum Dialog ist gering, die politischen Kräfte feinden sich an. Die Justiz in Peru ist in vielen Bereichen eng verbandelt mit der Politik und agiert nicht immer unabhängig. Die Ermittlungen der Generalstaatsanwaltschaft gegen die Präsidentin wegen Völkermords gründen sich auf Anzeigen, die von Betroffenen im Süden und von Parlamentarier:innen stammen.
Sehen Sie einen Ausweg?

Die Umfragen sind eindeutig. Mehr als 80 Prozent der Peruaner:innen wollen Neuwahlen und Boluartes Rücktritt. Sie hat keinen Rückhalt in der Bevölkerung, Gleiches gilt für das Parlament. Die Justiz gilt als fragwürdig. Wie sollen unter diesen Vorzeichen grundlegende poli­tische Reformen initiiert werden? Perus Demokratie ist »zerbrechlich«, wie Dina Boluarte richtig gewarnt hat. Das Niveau der Polarisierung ist enorm, die Parole »Sie sollen alle gehen« in Hinblick auf die Regierung ist weitverbreitet. Doch ein Konzept, wie sich Reformen einleiten ließen, die Politik an Glaubwürdigkeit gewinnen könnte, gibt es nicht. Das ist das Kernproblem.

Viele Analysten sind der Meinung, dass Peru neue politische Parteien und Politiker:innen brauche, die verlässlich und nicht korrupt sind. ­Woher sollen die kommen?

Neue Parteien sind nicht in Sicht und Neuwahlen allein werden keine wesentlichen Änderungen in der Zusammensetzung des Parlaments nach sich ziehen. Die braucht es aber, wie die vorgezogenen Wahlen vom Januar 2020 zeigten, die keine Lösung der politischen Krise brachten …

… Stattdessen setzte der neugewählte Kongress im November den liberalen Präsidenten Martín Vizcarra ab, was Kritiker als einen verdeckten Staatsstreich bezeichneten …

Wir brauchen einen demokratischen Neuanfang, aber den versperren zum einen die Abgeordneten im Kongress mit ihrer Verweigerung der Neuwahlen, zum anderen aber auch die Präsidentin. Wahlen allein werden nicht reichen. Wir brauchen auch eine Modernisierung der Verfassung, die es derzeit ermöglicht, dass der Kongress den Präsidenten absetzt, was mehrfach von den korrupten Parlamentariern ausgenutzt wurde. Die konnten oft gewählt werden, weil das Wahlgesetz Kandidaten, die nachweislich korrupt sind und wegen entsprechender Delikte verurteilt wurden, eben nicht sanktioniert. Das sind nur zwei von mehreren Punkten, die korrigiert werden müssten, damit eine politische Krise, wie wir sie heute erleben, künftig vermieden wird. Doch die entscheidende Frage ist, wie wir zu diesen Reformen kommen sollen, die eben nicht im Interesse derjenigen sind, die derzeit wichtige Machtpositionen innehaben. Das kann in Peru derzeit kaum jemand beantworten.
 

Jaime Borda ist Politikwissenschaftler und Koordinator des entwicklungspolitischen und bergbaukritischen Netzwerks Red Muqui. Die kirchennahe Organisation ist ein Zusammenschluss von 29 zivilgesellschaftlichen ­Organisationen in Peru, die sich auf regionaler, nationaler und internationaler Ebene für die Rechte und die nachhaltige Entwicklung von Gemeinden und Bevölkerungsgruppen in Bergbaugebieten einsetzen. Sie ist landesweit aktiv, begleitet Gemeinden bei Konflikten mit Berg­baukonzernen und vermittelt zwischen den ­beteiligten Konfliktparteien, auch mit den staatlichen Institutionen.