Von Olympia nach Sobibor
Im Jahr 2012, als in London die Olympischen Sommerspiele stattfanden, erreichte eine kurze Meldung die Sportredaktionen Österreichs: Das Olympische Komitee bestätigte, dass der österreichischen Schwimmer Otto Herschmann beim 100-Meter-Freistilschwimmen Zweiter geworden war – nicht in London, sondern in Athen im Jahr 1896. Ganze 116 Jahre hatte es gedauert, bis sich das IOC anhand von Augenzeugenberichten und des Studiums etlicher Akten sicher war, dass Herschmann beim Wettschwimmen tatsächlich als Zweiter ins Ziel gekommen war. Zunächst war der griechische Schwimmer Efstathios Chorafas als offiziell Zweitplatzierter aufgeführt gewesen, obwohl die Berichterstattung damals schon ein anderes Ergebnis übermittelte – warum das passiert war, lässt sich bis heute nicht erklären.
Athen 1896. Zum ersten Mal seit dem Jahr 393 n. Chr. fanden wieder Olympische Spiele statt. 241 Athleten aus 14 Staaten nahmen an den ersten Spielen der Neuzeit teil. Ausschließlich Männer. Frauen waren, wie in der Antike, von der Teilnahme an den Spielen zunächst ausgeschlossen und es sollte Jahrzehnte dauern, bis das Internationale Olympische Komitee alle Disziplinen für Frauen öffnete. Über die für Männer erstmals 1920 ins Programm genommene 3 000-Meter-Hindernis-Strecke durften Frauen 2008 bei den Spielen in Peking zum ersten Mal starten. Olympische Frauenwettbewerbe im Skispringen beziehungsweise Boxen gibt es erst seit 2014 beziehungsweise 2012.
Herschmann ist bis heute der einzige Mensch, der gleichzeitig einem nationalen Olympischen Komitee vorstand und bei Olympischen Spielen eine Medaille errang.
Österreich, beziehungsweise Cisleithanien, also der nichtungarische Teil der Doppelmonarchie, schickte drei Teilnehmer nach Athen: die Schwimmer Paul Neumann und Otto Herschmann sowie den Radfahrer und Fechter Adolf Schmal. Zwei der drei holten, wie wir heute sagen würden, »Gold«. Damals aber war nicht Schweigen, sondern Silber Gold, denn die Sieger bekamen eine Silbermedaille, die Zweitplatzierten eine aus Kupfer und die Dritten gar keine. Neumann, der später in die USA auswandern und unter seinem anglisierten Namen Paul Newman einige Weltrekorde aufstellen sollte, gewann das 500-Meter-Freistilschwimmen. Otto Herschmann wurde, wie wir mehr als 100 Jahre später erfahren würden, im 100-Meter-Freistilschwimmen Zweiter hinter dem Ungarn Alfred Hajos, der im transleithanischen Team angetreten war. Die Schwimmwettbewerbe wurden im Hafenbecken von Athen abgehalten, bei einer Wassertemperatur von 13 Grad.
Zwei der drei österreichischen Olympia-Pioniere waren Juden, nämlich Neumann und Herschmann. Otto Herschmann wurde 1877 in eine wohlhabende orthodoxe jüdische Familie in Wien geboren und zeigte schon während seiner Schulzeit sowohl Interesse als auch Talent für Sport. Er trat dem Ersten Wiener Amateur-Schwimm-Club bei und gewann bald seine ersten Wettbewerbe.
1895 schrieb er sich an der Juristischen Fakultät der Universität Wien ein und gab bei der Israelitischen Kultusgemeinde seinen Austritt bekannt. Er hatte sich immer mehr vom orthodoxen Judentum entfernt und fühlte sich als liberaler und säkularer Bürger Wiens. Damit war Herschmann nicht allein. Zwischen 1868 und 1914 traten nicht weniger als 18 000 Jüdinnen und Juden aus ihrer Religionsgemeinschaft aus, wie die Historikerin Anna L. Staudacher recherchierte.
Herschmanns Entscheidung, offiziell nicht mehr als Jude gelten zu wollen, hing wohl auch mit dem erstarkenden Antisemitismus jener Zeit zusammen. Der Erste Wiener Amateur-Schwimm-Club hatte Anfang 1895 Juden die Mitgliedschaft entzogen. Da aber Herschmann und Neumann die besten Schwimmer waren, vertraten sie Österreich trotzdem bei den Olympischen Spielen.
Ein Jahr nach den ersten Olympischen Spielen war Herschmann ein vielbeschäftigter Mann. Er arbeitete nicht nur als erfolgreicher Rechtsanwalt, sondern auch als Sportjournalist und Sportfunktionär. Er war Mitgründer des Wiener Athletiksport-Club (WAC), der bis heute einer der bedeutendsten Sportvereine Österreichs ist und der erste Club des Landes war, der mehrere Sportarten pflegte. Beim WAC gab es Abteilungen für Schwimmen, Fußball, Hockey, Leichtathletik, Ringen und Fechten.
Im Jahr 1898 war der WAC der erste österreichische Sportverein, der Frauen die Mitgliedschaft gewährte und sogar aktiv um sie warb. Herschmann machte sich für mehr Sporterziehung an den Schulen stark und sah es als seine »patriotische Pflicht«, breiten Teilen der Bevölkerung die gesundheitlichen Vorteile sportlicher Betätigung näherzubringen.
Überhaupt war Herschmann ein begeisterter Österreicher und Wiener. Von Theodor Herzl und der zionistischen Bewegung hielt der assimilierte Jude Herschmann wenig. Er sah um sich herum in Wien zwar viel neuen Judenhass, aber er hielt ihn für eine Modeerscheinung, die bald wieder verschwinden würde. Immerhin war Wien voller erfolgreicher jüdischer Ärzte, Künstler, Philosophen und Unternehmer. Und Sportler. Ganz sicher würde das Land die Verdienste seiner jüdischen Bürgerinnen und Bürger zu würdigen wissen, war Herschmann überzeugt.
1904 veröffentlichte Herschmann das Buch »Wiener Sport«. Verlegt wurde es vom bis heute sagenumwobenen Viktor Silberer, der unter anderem die Allgemeine Sport-Zeitung herausgab, das erste Sportmagazin in Österreich-Ungarn. Von zeitgenössischen Lesern kaum verstanden und wenig beachtet, gilt »Wiener Sport« heutzutage als eines der wichtigsten Textdokumente zur Übergangsphase, in der Sport von einem Vergnügen der Aristokraten und Großbürger zu einem Massenphänomen wurde. Herschmanns Buch zeichnet minutiös nach, wie die elitäre Rolle der Körperertüchtigung als Vorbereitung Adeliger auf den Krieg langsam Platz machte sowohl für Sport als Freizeitspaß des Industrieproletariats als auch für professionellen Vereinssport. »Wiener Sport« gilt vor allem in der englischsprachigen Welt als Klassiker der Soziologie. In Wien, wo das Buch geschrieben wurde, wird man heutzutage nurmehr wenige Menschen finden, die es kennen.
Zwischen 1900 und 1914 widmete sich Herschmann vor allem dem, was er »Volkssport« nannte und worunter eine »Demokratisierung« vormals Adel und finanzieller Führungsschicht vorbehaltener Sportarten wie Tennis oder Fechten zu verstehen ist. Herschmanns WAC engagierte den damals europaweit bekannten italienischen Fechtmeister Giovanni Franceschini als Trainer und sorgte dafür, dass jeder, der Lust und Talent hatte, sich vom Meister trainieren lassen konnte. Einer von Franceschinis Schülern war Herschmann selbst. Er wurde richtig gut im Fechten und belegte bei den großen Meisterschaften zu Ehren des 60. Thronjubiläums von Kaiser Franz Joseph Platz vier.
1912 wurde Otto Herschmann zum Präsidenten des Österreichischen Olympischen Komitees gewählt und sicherte sich gleich einmal selbst einen Platz bei den Spielen in Stockholm im selben Jahr. Dort wurde er Zweiter im Mannschaftswettbewerb der Säbelfechter. Übrigens ist Herschmann bis heute der einzige Mensch, der gleichzeitig einem nationalen Olympischen Komitee vorstand und bei Olympischen Spielen eine Medaille errang. Nach dem Ersten Weltkrieg und dem Zerfall der Donaumonarchie gewann Herschmann in den Jahren 1923 und 1924 noch einige Fechtwettbewerbe, zog sich aber aufgrund seines fortschreitenden Alters langsam vom aktiven Sport zurück. Er förderte im Stillen vor allem dem weiblichen Fechtnachwuchs und widmete sich ansonsten seiner Karriere als Rechtsanwalt.
Dann kam 1938 der »Anschluss« Österreichs an Nazideutschland. Eines der ersten neuen Gesetze verbot Juden, als Rechtsanwälte zu arbeiten. Herschmann musste seine Kanzlei schließen und mitansahen, wie sein geliebtes Wien ihm und allen anderen Juden, die nicht rechtzeitig geflohen waren, ihre Verdienste um das Land lohnte: mit Verfolgung und Mord. Am 16. Februar 1942 wurde der verarmte Herschmann von der Gestapo verhaftet und in das Vernichtungslager Sobibor deportiert. Bis heute ist nicht geklärt, ob er in einer der dortigen Gaskammern ermordet wurde oder bereits zuvor im Zwischenlager Izbica. Heutzutage erinnert in Wien die Otto-Herschmann-Gasse im 11. Bezirk an den Mann, der so viel für den Sport in Österreich geleistet hatte.