Der Film »Saint Omer« lehnt sich an den Fall Fabienne Kabou an

Abstieg in die Hölle

Beinahe ein Meisterwerk: Alice Diop rollt in ihrem ersten Spielfilm »Saint Omer« den Fall der Kindsmörderin Fabienne Kabou auf. Leider mythologisiert der über weite Strecken großartige Film am Ende die Mutterschaft.

Die Anspannung der jungen Frau, der pummelige Strampelanzug des Babys im Kinderwagen – das Bild einer Überwachungskamera, aufgenommen am 19. November 2013 am Pariser Gare du Nord, zeigt die 39jährge Fabienne Kabou mit ihrer 15 Monate alten Tochter auf dem Weg an den nordfranzösischen Küs­tenort Berck-sur-Mer, wo die Studentin in der darauffolgenden Nacht ihr Kind bei steigender Flut am Strand abgelegt hat. Sieht man sich das Bild an, versteht man sofort, warum die französische Öffentlichkeit von diesem Fall einer Kinds­tötung so berührt war und welche Rolle die in allen Medien veröffentlichte Aufnahme dabei gespielt hat.

Sie sei sofort von dem Bild »besessen« gewesen, sagt auch die franzö­sische Filmemacherin Alice Diop und meint doch etwas ganz anderes. Ihre Empathie gilt der mutmaßlichen Täterin. »Ich sehe sie an, ich weiß, dass sie Senegalesin ist, ich weiß, dass wir gleich alt sind, ich kenne sie so gut, dass ich mich wiedererkenne. Und so beginnt eine Besessenheit von dieser Frau.« Als Kabou vor ein Schwurgericht gestellt wurde, reiste Diop, deren Eltern ebenfalls aus Senegal emigriert waren, ins nordfranzösische Saint-Omer, um die Anhörung zu beobachten und daraus einen Film zu machen.

»Saint Omer« ist der erste Spielfilm der bisher mit eindrucksvollen Dokumentationen aufgefallenen Filmemacherin. Im Rahmen einer fiktionalisierten Handlung erzählt sie von der Identifikation mit Fabienne Kabou, die im Film zu Laurence Coly (Guslagie Malanda) wird. Die im Stil des derzeit im Autorenkino äußerst populären Reenactments durchgespielte Gerichtsverhandlung breitet ein zwischen unterschiedlichen Anforderungen und Idealen zerriebenes Leben aus, erzählt in Rückblenden von Laurences Jugend und mündet in Szenen aus der von Maria Callas verkörperten Medea in der gleichnamigen Oper. Der Film dreht sich um die Frage, war­um die junge Mutter ihr Kind er­trinken ließ und ob ein Verstehen der Tat jenseits von Verurteilen möglich ist. Er fragt auch nach dem angemessenen Reden über Schuld, nach der Beschämung und den Grenzen des Urteilens über den anderen.

Es ist die Figur der Literaturdozentin Rama (Kayije Kagame), die diese Fragen im Film stellvertretend für Diop aufwirft. Bei einer Vorlesung vor Studentinnen an der Pariser Universität Sciences Po zeigt die junge schwarze Dozentin ihren Studentinnen unerhörte Bilder: historische Aufnahmen von »Schurorgien«, mit denen sich die französische Bevölkerung gegen Ende des Zweiten Weltkriegs allerorten an Kollaborateurinnen rächte. Dazu verliest sie den Einspruch der Schriftstellerin Marguerite Duras, die die öffentlichen Erniedrigungsspektakel kritisierte. Durch die Spiegelung in der Literatur kann die verhasste Figur den Status des »Subjekts im Gnadenzustand« erreichen, so Duras. Genau das versucht die Regisseurin auf die Kindsmörderin anzuwenden.

Rama ist schwanger, erwartet das erste gemeinsame Kind mit ihrem weißen Freund. Sie hat ein schwieriges Verhältnis zu ihrer Mutter und fühlt sich nicht zuletzt aufgrund ihrer Bildung der Familie entfremdet. Mit jeder Woche wachsen ihre Zweifel, ob sie der Mutterschaft genügen kann. Sie arbeitet an einem Buch über die zeitgemäße Interpretation des Medea-Myhos und verstrickt sich immer tiefer in den Fall der Kindsmörderin Laurence Coly, der die Schlagzeilen der französischen Me­dien beherrscht. Was und wie über Coly gesprochen wird, bezieht sie auf sich. Rama entschließt sich, zum Prozess in die französische Provinz zu fahren, um sich mit dem Schmerz zu konfrontieren. In den engen Straßen der Kleinstadt Saint-Omer, in der sich die Gardinen bewegen, wenn ein Unbekannter vorbeigeht, wird Rama in einer Atmosphäre wie in einem Horrorfilm zu einer Fremden.

Eine beängstigende Intensität liegt über der Szenerie. Das hat vor allem mit der somnambulen Präsenz Guslagie Malandas zu tun, die der Einsamkeit Laurence Colys eine ganz eigene Würde verleiht.

Das Prozessgeschehen ist der eigentliche Kern des Films. Knarrende Dielen, ein holzvertäfelter Gerichtssaal, der die Angeklagte im mokkafarbenen Pullover zu verschlucken scheint. Alles konzentriert sich auf die Fragen des Gerichts und die Antworten der Angeklagten. Eine beängstigende Intensität liegt über der Szenerie. Das hat vor allem mit der somnambulen Präsenz Guslagie Malandas zu tun, die der Einsamkeit Laurence Colys eine ganz eigene Würde verleiht.

Gespiegelt durch die Reaktionen Ramas im Zuschauerbereich, wird die Geschichte der Angeklagten aufgerollt: vom Aufwachsen in einer französischsprachigen Familie in Dakar über den Entschluss der Hochbegabten, in Frankreich zu studieren, bis zu dem unheilvollen Abend, an dem sie ihr Kind ins Meer legt. Zur Sprache kommen die angespannte Beziehung zu einer fordernden Mutter, die auch zum Prozess angereist ist, und die Strenge des Vaters, der ihr kein Geld mehr schickte, als sie ihr Jurastudium abbrach, um Philosophie zu studieren.

Warum wollte sie zum Studium nach Paris? »Um mich von meinen Eltern zu entfernen.« Was interessierte sie gerade an Wittgenstein? »Ich wollte eine helle Spur hinterlassen.« Die Mutter? »Ich hatte das Gefühl, ich sollte das Leben führen, das sie nicht haben konnte.« Die Erwartungen? »Ich trug viel Last auf meinen Schultern.« Es sind Aussagen, die an die Autofiktionen von Annie Ernaux denken lassen, die den mit dem Bildungsaufstieg verbundenen Bruch einer Tochter mit der kleinbürgerlichen Familie beschrieben hat. Auch Diop untersucht die Entfremdung einer jungen ehrgeizigen Frau von ihrem Herkunftsmilieu, ­allerdings unter den besonderen Bedingungen der Migration. Anders als die weiße Bildungsgewinnerin im Frankreich der sechziger Jahre scheitert die schwarze Studentin mit ihren Aufstiegsambitionen in der neoliberalen Wissensgesellschaft der Gegenwart.

Laurence beginnt eine Affäre mit einem sehr viel älteren Mann, dem zukünftigen Vater ihrer Tochter. Das Kind bringt sie allein ohne medizinische Betreuung zur Welt. Hat der ältere Freund Luc Dumontet (Xavier Maly) sie im Stich gelassen, sie vernachlässigt und von seinem Umfeld ferngehalten, und zwar aus ­rassistischen Motiven? Oder hat Laurence, wie der Staatsanwalt behauptet, nur deshalb ihr Kind in aller Heimlichkeit zur Welt gebracht, weil sie bereits wusste, dass sie es früher oder später verschwinden lassen würde?

Kein Zweifel besteht daran, dass die Angeklagte ein liebevolles Verhältnis zu ihrer Tochter hatte, auch der Tathergang ist unstrittig. »Selbst ein Idiot in einem Alkoholkoma hätte nie getan, was ich getan habe«, erklärt Laurence und besteht darauf, in der betreffenden Nacht das Opfer von Hexerei geworden zu sein. Stimmen hätten ihr die Tötung des Kindes befohlen. Eine Schutzbehauptung oder der Versuch, eine schwere Depression zu maskieren? Im Fall von Fabienne Kabou erkannte das Gericht in zweiter Instanz auf eine psychische Störung.

Manche Schauspieler ähneln den realen Figuren, die sie repräsentieren, andere sind gänzlich gegen den Typ besetzt. Fabienne Kabou wurde als fordernd, unzugänglich, redegewandt und kalt beschrieben; Guslagie Malanda interpretiert Laurence Coly völlig anders. Sie panzert ihre Figur mit einem leicht verschlafenen Charisma, an dem die Fragen des Gerichts sanft abzuprallen scheinen. Bei der Rolle des Freunds und Vaters war die Versuchung offenbar zu groß, das Klischee des alten weißen Mannes zu erfüllen; Xavier Maly spielt die Figur des Ingenieurs, der international tätig gewesen war und eine zweite Karriere als spätberufener Bildhauer begonnen hat, seltsam trottelig. Mit der drahtigen Gestalt des realen Kindsvaters hat er wenig gemein. Das Verhältnis zu einer Studentin glaubt man ihm so wenig wie den Künstler.

Die von Aurélia Petit verkörperte Anwältin Vaudenay mit dem markanten Garçon-Schnitt dagegen wirkt der französischen Starjuristin Fabienne Roy-Nansion, die Kabou verteidigt hatte, wie aus dem Gesicht geschnitten. Vaudenay ist es vorbehalten, die betäubende Sprachlosigkeit ihrer Klientin zu überwinden. In ihrem Plädoyer zeichnet sie den Abstieg einer jungen Mutter in die Hölle nach und rührt die Anwesenden im Saal zu Tränen. Mit dieser Geste des Mitleidens vollzieht sich im Sinne von Duras die symbolische Anerkennung der Ausgestoßenen.

Aber Vaudenay geht in ihrem Vortrag irritierenderweise noch weiter; sie verweist auf die – medizinisch umstrittene – Schimären-Theorie, der zufolge sich im mütterlichen Gehirn Zellen des Fötus einnisten, um das unauflösliche Band zwischen ihrer Klientin und dem getöteten Kind zu betonen. Es handelt sich um eine Ausschmückung, in der das von Alice Diop, Amrita David und Marie ­NDiaye verfasste Drehbuch vom realen Prozessgeschehen abweicht. Die Tragik des Kindsmords wird dabei auf abenteuerliche Weise übergangen und das Kind symbolisch der narzisstischen Mutter zugeschlagen. Man wünschte, die Feministin Elisabeth Badinter, die den Mutterkult in all seinen fatalen Ausprägungen beschrieben hat, hätte am Drehbuch mitgeschrieben. »Saint Omer« ist dennoch ein Meisterwerk – auch wenn der Film am Ende das Ideal einer Übermutter beschwört, dessen unheilvollen Einfluss auf das Leben der Töchter er so überzeugend vorgeführt hat.

Saint Omer (Frankreich 2022). Buch: ­Amrita David, Marie NDiaye, Alice Diop. Regie: Alice Diop. Darsteller: Kayije ­Kagame, Guslagie Malanda, Aurélia Petit, Xavier Maly. Kinostart: 9. März