Steven Spielberg erzählt in »Die Fabelmans« über seine Kindheit und Jugend

Pures Fabulieren

Steven Spielbergs neuer Film »Die Fabelmans« ist eine autobiographische Geschichte über die Kindheit und Jugend des Regisseurs – die von der Faszination für das Medium Film und antisemitischen Beschimpfungen geprägt war.

Wer einmal den Ernst der Lage ­begriffen hat, der beginnt als Trotzreaktion womöglich zu fabulieren. Wer aber gut und gerne fabuliert, der wird selten ernst genommen. Wenn es ein Problem mit Steven Spielberg zu geben scheint, oder besser gesagt, wenn die Welt ein Problem mit Steven Spielberg hat, dann dieses. Bis heute wirft man dem Regisseur vor, das künstlerisch anspruchsvolle New-Hollywood-­Kino quasi im Alleingang kommerzialisiert und infantilisiert zu haben: fort mit den desillusionierten Betrachtungen des US-amerikanischen Alltags und der US-amerikanischen Mythen.

Der Name Spielberg ist zum Synonym geworden für Spektakel, Staunen und süße Happy Ends im Kreise der bürgerlichen Kernfamilie. Mit seinem Sommerblockbuster »Der Weiße Hai« von 1975 habe er das politisch ambitionierte Kunstkino gewissermaßen einem Raubtierkapitalismus zum Fraß vorgeworfen, der sich bis heute an ihm labt. Eine altbackene Klage, die zudem ans Phantasma grenzt – und selbst schon zum Mythos geworden ist.

Denn bei genauer Betrachtung besitzen Spielbergs Filme durchaus eine politische Signifikanz, die sich durch alle Schauwerte hindurch mal mehr, mal weniger prominent abzeichnet. Schon in seinem Haifischfilm ließ er drei Männer mit unterschiedlicher Klassenherkunft über das Geschick Amerikas streiten: den proletarischen Weltkriegsveteran, den Mittelschichtspolizisten und den liberalen Ökologen, der für die Belange des erstgenannten wenig übrig hat.

Spielberg den Untergang einer ganzen Filmkultur aufzubürden, das ist mindestens zu kurz gedacht. Viel mehr als über dessen Filme verrät es über die Krise einer politischen ­Cinephilie, die seit den Siebzigern lieber nach eindeutigen Positionen und Aktivismus schreit anstatt nach aufregenden Filmen. Wehe dem, der politisches Kino nur gelten lässt, wenn es sich selbst auch so nennt.

Manchmal wundert sich der junge Sammy, warum sein Haus das einzige in der Siedlung ist, das keine Weihnachtsbeleuchtung anbringt.

Für Spielberg hat dieser Konflikt mit hoher Wahrscheinlichkeit nie existiert. Filmisches Fabulieren ist ihm ein probates Mittel, um der Welt und all ihren Schrecknissen zu begegnen, ja, ihnen zu trotzen. Auch dann, wenn man noch wenig über ihre politischen Zusammenhänge weiß und sie erst zu erschließen beginnt. So konzentriert sich seine filmische Autobiographie »Die Fabelmans« vor allem auf seine Kindheit und Jugend in den fünfziger Jahren. Sie erzählt unter anderem von der fragilen Normalität einer jüdischen Mittelschichtsfamilie in den Suburbs. Sammy Fabelman heißt Spielbergs Alter Ego darin, es wird im Kindesalter von Mateo Zoryan Francis-DeFord und als Teenager von Gabriel LaBelle gleichermaßen beeindruckend gespielt. Seine Mutter Mitzi (Michelle Williams) ist Pianistin, der Vater Burt (Paul Dano) arbeitet als Informatiker. Williams und Dano funktionieren großartig als ungleiches Paar: sie burschikos, er zurückhaltend.

Es ist eine glückliche Kindheit, ­geprägt von der Musik- und Technikbegeisterung der Eltern, deren Tür Freunden und Verwandten stets offensteht. Nur manchmal wundert sich der junge Sammy, warum sein Haus das einzige in der Siedlung ist, das keine Weihnachtsbeleuchtung anbringt. Erst später, als die Familie für bessere Arbeit erst nach Arizona und dann nach Kalifornien umzieht, droht das Elternhaus auseinander­zubrechen. Auf der High School in Kalifornien wird der jugendliche Sammy durch seine Mitschüler, Söhne aus reichem protestantischem ­Elternhaus, erstmals zum Opfer antisemitischer Attacken.

Die Erzählung ist typisch für Spielberg: nicht nur, dass ein kleiner Junge im Zentrum des Geschehens steht, sondern auch das Motiv der Errettung, in diesem Falle durch die rettende Kraft des Filmemachens. Den Splittern des Alltags etwas entgegenhalten – Filmschnipsel bieten sich da an. Die ersten, die Sammy mit seinen Geschwistern aufnimmt und zusammenfügt, sind noch kurz, aber schnell werden sie immer ausgereifter, bis er schließlich ganze Scharen von Freunden für selbstgedrehte Weltkriegsepen durch den Wüstensand von Arizona dirigiert.

Wie Spielberg auf seine ersten filmischen Gehversuche zurückblickt, in ihrer Unermüdlichkeit, mit behelfsmäßigem Equipment und einer Gruppe von Freunden, das verbreitet eine ansteckende Lust, es ihm gleichzutun – und soll auch genauso verstanden werden. Außerdem ist es eine charmante Erinnerung daran, dass der später als Wunderkind von Hollywood Gefeierte vor den Millionenbudgets, vor dem Ruhm und den Preisen gewissermaßen schon ein ganzes junges Leben lang Underground-Filmer gewesen war (»Nerds. Die Geschichte eines amerikanischen Außenseiters«). Der mit Filmen zwar noch nicht genug Geld zum Leben verdiente, aber ohne das Filmemachen nicht leben konnte.

Eine kinematographische Urszene zieht Sammy nachhaltig in den Bann, und zwar ein Zugunfall in Cecil B. DeMilles Zirkusabenteuer »Die größte Schau der Welt« aus dem Jahre 1952. Der Zug fegt darin einen auf den Gleisen stehenden Gangsterwagen und einen zweiten Zug beiseite, der Aufprall ist ohrenbetäubend, die Waggons bersten und türmen sich zu einem Berg von Trümmern auf. Obwohl die Sequenz Sammy zutiefst schockiert, muss er sie nachfilmen – mit seiner Spielzeugeisenbahn. Dass Spielberg Kino als Schock und immer auch als dessen Bewältigung versteht, als Zerfall und zugleich als Veränderung, lässt sich im gesamten Film immer wieder feststellen.

Geschickt ist es auch, wie dabei das Kino als der Welt stets einen Schritt voraus gedacht wird. Es ist das Schneiden eines Homemovies über den letzten Familienausflug, das Sammy entdecken lässt, dass seine Mutter eine Affäre mit dem besten Freund des Vaters hat. Und noch bevor er sich der antisemitischen Widerlinge aus dem Sportunterricht erwehren muss, hat Sammy in seinen Kriegsfilmen reihenweise Wehrmachtssoldaten abgeknallt (»Warum? Steven Spielbergs Der Soldat James Ryan erweckt den Kriegsfilm zu neuem Leben«). Auch das muss man Spielberg zugutehalten: Es gibt kaum einen Filmemacher, der in seinem Œuvre so ausgiebig Jagd auf Judenhasser jeglicher Couleur gemacht hat.

Wie Spielberg auf seine ersten filmischen Gehversuche zurückblickt, in ihrer Unermüdlichkeit, mit behelfsmäßigem Equipment, das verbreitet eine ansteckende Lust, es ihm gleichzutun.

An der Schwelle zu Hollywood – die ersten Aufträge sind noch in weiter Ferne – ist es schließlich der von David Lynch umwerfend bärbeißig gespielte Regisseur John Ford, der für fünf intensive Minuten Sammys Mentor wird. Die Anekdote, dass sich der junge Spielberg und Ford trafen, ist wohl wahr, Spielberg hat sie schon öfter in Interviews erzählt und sie ist zu schön, um sie nicht mit in den Film aufzunehmen.

Während Ford also sein Büro mit Zigarrenrauch einnebelt, knurrt er den verwirrten Bewunderer an, was er auf den Westerngemälden an den Wänden sehe. Sammy fängt an, Pferde und Cowboys aufzuzählen. Ganz falsch, bellt Ford, es gehe um die Linie des Horizonts. Befindet sie sich am oberen Bildrand oder am unteren? Ist der Horizont oben, dann ist es ­interessant. Ist der Horizont unten, dann ist es interessant. Ein Horizont in der Bildmitte? Ein Sakrileg! Ein wunderbares Beispiel für Fords ganz eigenen Universalismus des Kinos: die Welt wahlweise auf den Kopf zu stellen oder auf die Füße, mit einer einzigen Kameraperspektive.

Als der junge Bewunderer das Büro verlässt, umspielt ein leichtes Lächeln die Lippen des Älteren. Aus gutem Grund, denn »Die Fabelmans« ist nicht nur einer von Spielberg schönsten Filmen, nämlich pures Fabulieren, das der Welt trotzen möchte. Auch die Lektion ist gelernt: Durch die letzten Bilder von »Die Fabelmans« geht plötzlich ein Ruck, sie gleichen einem Ansetzen zum Sprung.

Die Fabelmans (USA 2022). Buch: Tony ­Kushner, Steven Spielberg. Regie: Steven Spielberg. Darsteller: Gabriel LaBelle, ­Mateo Zoryan Francis-DeFord, Michelle Williams, Paul Dano