Premierminister Rishi Sunak ringt mit Haushaltslücken, die Arbeitskämpfe gehen weiter

Die multiple Krise

Wegen der steigenden Lebenshaltungskosten wird in Großbritannien gestreikt wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Die konservative Regierung verspricht Investitionen in die marode öffentliche Infrastruktur, doch die Parteibasis fordert Steuersenkungen.

Die seit bald einem Jahr anhaltende Serie von Streiks in Großbritannien reißt nicht ab. Seit Jahren stagnierende Löhne und die deshalb schwindende Kaufkraft treiben vor allem die im öffentlichen Dienst Beschäftigten dazu, die Arbeit niederzulegen: Feuerwehrleute, Ärzte, Verwaltungsangestellte und andere (Ausgedehnte Störungen im Betriebsablauf: Die Arbeitskämpfe in Großbritannien gehen unvermindert weiter, Jungle World 1/2023). Schon im vergangenen Jahr war in Großbritannien an so vielen Tagen gestreikt worden wie seit 1989 nicht mehr. In dieser Woche legen landesweit Beschäftigte in Schulen und Krankenhäusern die Arbeit nieder.

Auch die Bahngewerkschaften verhandeln derzeit über einen nach langwierigen Streiks ausgehandelten Tarifabschluss, bei dem die Lohnerhöhungen jedoch immer noch unter der Inflationsrate liegen würden. Diese beträgt knapp über zehn Prozent, bei Lebensmitteln zuletzt sogar 16,7 Prozent.

Im Februar sorgte die Ankündigung mehrerer großer Supermarktketten für Aufsehen, dass der Verkauf von bestimmten Obst- und Gemüsesorten rationiert werden müsse. Ein Grund dafür sind die hohen Energiekosten, die die landwirtschaftliche Produktion in Gewächshäusern weniger profitabel gemacht haben; dazu kommt, dass aufgrund ungewöhnlicher Kälte in Spa­nien und Portugal auch Importe beeinträchtigt waren.

Viele Experten und die Opposition sehen die Probleme als Ausdruck struktureller Krisen, auf welche die Regierung keine Antwort habe.

Wegen steigender Kreditzinsen sind weniger Briten in der Lage, den Kauf von Wohnungen und Häusern zu finanzieren. Im vergangenen Herbst hatte der sogenannte Mini-Haushalt der vormaligen Premierministerin Liz Truss zu einem starken Wertverlust des Britischen Pfund geführt und die britische Zentralbank gezwungen, Staatsanleihen im Wert von 65 Milliarden Pfund zu kaufen, um den Markt zu stabilisieren.

Truss hatte mit diesem außerordent­lichen Zwischenbudget versucht, auf Kreditbasis Steuersenkungen zu finanzieren. Das führte zeitweilig zu einem außergewöhnlichen Anstieg der Hypothekenzinsen. In Kombination mit dem herrschenden Arbeitskräftemangel und der hohen Inflation sorgt das dafür, dass weniger Wohnungen gebaut werden und die Mieten weiter steigen.

Staatliche Unterfinanzierung der öffentlichen Infrastruktur
Die gegenwärtige Regierung unter dem konservativen Premierminister Rishi Sunak betont zwar, dass viele der Probleme auf Ausnahmesituationen zurückzuführen seien, ihre Ursachen also in der Covid-19-Pandemie und dem Angriff Russlands auf die Ukraine hätten. Doch viele Experten und die Opposition sehen diese Probleme eher als Ausdruck struktureller Krisen, auf welche die Regierung keine Antwort habe. Infolge des EU-Austritts finden sich deutlich zu wenige, die schlecht bezahlte Tätigkeiten übernehmen; den Think Tanks Centre for European Reform (CER) und UK in a Changing ­Europe zufolge fehlen wegen des Rückgangs der Zuwanderung über 300 000 Arbeiter.

Die staatliche Unterfinanzierung der öffentlichen Infrastruktur währt indes seit vielen Jahren. Ein schlagendes Beispiel dafür ist die Krise des staatlichen Gesundheitsdiensts, des National Health Service (NHS). Krankenschwestern, Nachwuchsärzte sowie das Personal von Krankenwagen und Rettungsstellen fordern wegen der Inflation höhere Löhne. Schon jetzt gibt es akute Probleme, Stellen neu zu besetzen, weil die Löhne nicht mehr ­attraktiv genug sind und die Arbeitsbedingungen immer schlechter werden. Bereits vor den Streiks der vergangenen Monate was es nicht unüblich, dass Notfallpatienten nach der Ankunft in der Notaufnahme stundenlang auf Korridoren, teilweise sogar in den Krankenwagen, warten mussten, bevor sie behandelt wurden.

Von Mitte 2021 bis Ende vergangenen Jahres seien bis zu 15 000 Menschen infolge der langen Wartezeiten für Behandlungen gestorben, berichtete der »Independent« unter Berufung auf interne Daten des NHS.

Wie der Guardian unter Berufung auf NHS-Statistiken berichtete, seien 2022 in England mindestens 500 Menschen nach einer verzögerten Ankunft eines Krankenwagens gestorben, doppelt so viele wie 2021. Im Gesamtbild sind die Zahlen noch dramatischer: Von Mitte 2021 bis Ende vergangenen Jahres seien bis zu 15 000 Menschen infolge der langen Wartezeiten für Behandlungen gestorben, berichtete der Independent unter Berufung auf interne Daten des NHS.

Premierminister Boris Johnson hatte in seinem Wahlprogramm 2019 angekündigt, solche Probleme durch Investitionen zu beheben. 40 neue Krankenhäuser sollten bis zum Jahr 2030 gebaut und Zehntausende neue Krankenpfleger eingestellt werden. Doch für die meisten der versprochenen Neubauten existieren nicht einmal Baugenehmigungen, und die stark gestiegenen Baukosten erschweren sogar die dringend nötige Sanierung älterer Krankenhausgebäude.

Überlastung der Krankenhäuser
Zudem führt die hohe Nachfrage zur Überlastung der Krankenhäuser. Seit Jahren bleiben ältere, pflegebedürftige Patienten länger in Krankenhäusern als medizinisch notwendig, weil es an Altenpflegeeinrichtungen und Möglichkeiten der häuslichen Pflege mangelt. Berechnungen der House of Commons Library zufolge, des parlamentarischen Informationsdienstes des britischen Unterhauses, waren im Dezember 2022 täglich im Durchschnitt über 13 000 Krankenhausbetten belegt, weil es an Pflegeheimplätzen für die Patienten fehlt. Diese Zahl hatte sich demnach im Vergleich zum Vorjahr um ein Drittel erhöht.

Bis dato ist die Vorsorge zur Altenpflege in Großbritannien fast ausschließlich Privatsache. Es gibt zwar eine kommunale Grundversorgung für arme Alte, aber ansonsten müssen Pflegekosten privat getragen werden, mit teilweise ruinösen Folgen für die betroffenen Familien. Das ist ein Langzeiteffekt der in den später achtziger Jahren erfolgten Privatisierung der zuvor staatlichen Altersvorsorge und damit einhergehender Rentenkürzungen. So hat sich ein Markt mit sehr teuren privaten Altenpflegeheimen gebildet, während es noch einige kommunale Altersheime für die Ärmeren gibt. Doch für viele Briten, die weder besonders arm noch besonders reich sind, fehlen bezahlbare Pflegeplätze.

Die Regierung Johnson hat 2022 mit dem Care Act ein neues System eingeführt: Ab Oktober 2023 gibt es für alle Briten eine Deckelung der Pflegekosten bis ans Ende des Lebens. Wird eine Grenze von umgerechnet rund 90 000 Euro überschritten, soll der Staat für die weiteren Kosten der Pflege aufkommen. Dieser Betrag liegt jedoch sehr hoch, zumal Kosten für Unterkunft und Verpflegung davon ausgenommen sind. Dennoch hoffte die Regierung, dass sich aufgrund der Reform ein größeres Angebot von Pflegeeinrichtungen sowie von neuen privaten Versicherungsprodukten entwickeln werde. Doch auch der britische Altenpflegebereich ist vom Arbeitskräftemangel betroffen; ob der Care Act tatsächlich hilft, die Situation zu entspannen, ist offen.

Lichtblicke für die britische Wirtschaft
Die Pflegekosten oberhalb der Deckelung sollen der NHS und die Kommunen finanzieren. Letztere stehen oft jedoch selbst unter finanziellem Druck. Schuldendienst und Sanierungsstau fressen die Mittel. Die Kosten sollten eigentlich durch eine im vergangenen Jahr beschlossene Steuererhöhung ­gegenfinanziert werden, die den Sozialversicherungssatz um 1,25 Prozent ­anhob.

Doch diese Änderung wurde im September unter Premierministerin Truss zurückgenommen. Nun versucht die Regierung, kurzfristig Abhilfe zu schaffen. Im Dezember und Januar gab Gesundheitsminister Steve Barclay eine halbe Milliarde Pfund an den NHS, um kurzfristig Pflegeplätze zu finanzieren und die Krankenhäuser zu entlasten.

Zuletzt gab es auch Lichtblicke für die britische Wirtschaft. Nachdem das Bruttoinlandsprodukt im letzten Quartal des vergangenen Jahres stagniert hatte, ist es im Januar überraschend um 0,3 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat gewachsen. Auch die Steuereinnahmen sind in den vergangenen zwei Monaten überraschend hoch ausgefallen. Das könnte es der Regierung erleichtern, den streikenden Gewerkschaften im öffentlichen Dienst entgegenzukommen.

Staatliche Investitionen in den Wohnungsbau oder den klimagerechten Ausbau der bestehenden Wohnungen, wie von der Opposition gefordert, gibt es nicht.

Doch eine Erhöhung der Staatsausgaben wäre für die konservative Regierung politisch schwierig zu vertreten. Ihre Wählerbasis und viele Abgeordnete wüschen sich Steuererleichterungen, wie sie Premierministerin Truss vorgeschlagen hatte. Das fulminante Scheitern ihrer Politik und ihr Rücktritt im Oktober nach nur 44 Tagen im Amt gab dem zwar einen Dämpfer, doch inzwischen steigt der Druck auf die Regierung wieder.

Kürzungen, zum Beispiel beim NHS, sind politisch indes auch nicht zu verkaufen, zu sehr war Boris Johnsons Wahlerfolg bei der jüngsten Parlamentswahl 2019 an das Versprechen von Investitionen in den NHS und das sogenannte levelling up geknüpft, sprich Infrastrukturprojekte für vernachlässigte Regionen.

Höhere Steuerbelastung für Menschen mit geringen und mittleren Einkommen
Die sich auftuenden Haushaltslücken und die vielen notwendigen Investi­tionen erfordern eigentlich Steuererhöhungen. Teilweise sind diese schon indirekt implementiert worden. Die Steuerfreibeträge und Grenzwerte für Steuersätze bei der Einkommensteuer sollen in den kommenden Jahren nicht im Maß der Inflation erhöht werden, eine Maßnahme der Regierung Truss, die die Steuerbelastung vor allem für Menschen mit geringen und mittleren Einkommen erhöhen dürfte.

Außerdem plant die Regierung gegen starken Widerstand aus der eigenen Partei, ab April die Körperschaftssteuer von 19 auf 25 Prozent zu erhöhen und die Einkommensgrenze für den Spitzen­steuersatz zu senken. Auch eine höhere Übergewinnsteuer ist laut Finanzminister Jeremy Hunt geplant.

Doch das reicht nicht, um Kürzungen zu vermeiden. Bei Sozialleistungen erfolgen diese bisher durch unterbleibende Investitionen in den NHS, und im Straßenbau und beim Neubau von Bahnstrecken schiebt die Regierung Projekte auf die lange Bank. Staatliche Investitionen in den Wohnungsbau oder den klimagerechten Ausbau der bestehenden Wohnungen, wie von der Opposition gefordert, gibt es nicht.

Die Folgen sind eine schlechte und überteuerte Infrastruktur beim Verkehr, im Gesundheitsbereich, bei der Altenpflege und in der Kinderversorgung. Dazu kommen die Probleme auf dem Wohnungsmarkt. Glaubt man vielen Experten, verschlimmert die Regierung Sunak durch ihre Haushalts­politik langfristig die strukturellen Probleme des Landes. Seit 2009 ist die Arbeitsproduktivität Großbritanniens langsamer gewachsen als die aller anderen G7-Staaten mit der Ausnahme Italiens.