Der japanische Regisseur Hirokazu Koreeda hat seinen neuen Film »Broker« in Südkorea gedreht

Eine schrecklich ungewöhnliche Familie

In den Filmen von Hirokazu Koreeda dreht sich meist alles um die Familie – sein neuster mit dem Titel »Broker« ist keine Ausnahme. In dem Drama ist aber noch etwas darüber hinaus Thema, nämlich ungewollte Kinder und die in Südkorea immer noch tabuisierte Adoption.

Im Jahr 2018 erreichte der japanische Regisseur Hirokazu Koreeda mit seinem Film »Shoplifters« (Neue Familien braucht das Land: Familienbande auf Japanisch - Hirokazu Koreedas Film »Shoplifters«, Jungle World 1/2019) zweifellos den Höhepunkt seiner bisherigen Karriere. Nachdem er schon mehrmals auf dem Filmfestival in Cannes im Wettbewerb vertreten war, gewann er in dem Jahr die Goldene Palme für den besten Film. Zahlreiche weitere Preise auf diversen Festivals folgten, ebenso eine Nominierung für den Oscar als bester internationaler Film. Wie bereits seine früheren Arbeiten wie »Nobody Knows« (2004), »Like Father, Like Son« (2013) oder »Unsere kleine Schwester« (2015) kreist auch »Shoplifters« um eines seiner zen­tralen Themen: die Familie. Genauer gesagt geht es um die Frage, was eine Familie eigentlich ausmacht. Ist es die reine Blutsverwandtschaft oder nicht vielmehr das frei gewählte Zusammenleben mit vertrauten Mitmenschen, das so etwas wie eine Familienzugehörigkeit erst entstehen lässt?

Der Film erzählt von einer Patchwork-Familie, bestehend aus sozialen Außenseitern, die in ärmlichen Verhältnissen in einem winzigen Haus inmitten der Millionenmetropole Tokio leben und sich mit Rentenbetrug, allerlei Gelegenheitsjobs und ausgefeilten Ladendiebstählen über Wasser halten. Und wie sich im ­Laufe des Films herausstellt, sind die Familienmitglieder, wenn überhaupt, nur sehr weitläufig miteinander verwandt.

Wie auch schon in »Shoplifters« ist das Familienbild, für das »Broker« plädiert, ein Gegenentwurf zum Ideal der bürgerlichen Kleinfamilie.

Nach einem Ausflug im Jahr 2019 nach Frankreich, wo Koreeda mit Ethan Hawke, Juliette Binoche und Catherine Deneuve und ohne Französisch oder gar Englisch zu sprechen »La Vérité« drehte, seinen erster Film außerhalb Japans (Wahre Jugend: Im Film »La Vérité« brilliert Catherine Deneuve als gealterte Diva, Jungle World 10/2020), kommt mit »Broker« nun das Gegenstück zu »Shoplifters« in die deutschen Kinos. Gedreht wurde diesmal in Südkorea. Und auch hier sind es wieder kriminelle Außenseiter, die sich in einer ungewöhnlichen Familienkonstellation wiederfinden.

In einer regnerischen Nacht lässt eine junge Mutter ihr Neugeborenes vor einer Babyklappe eines Waisenhauses zurück. Zwei Mitarbeiter der Einrichtung schnappen sich das Kind und beseitigen alle Spuren. Denn sie haben sich ein raffiniertes Geschäftsmodell ausgedacht: Sie verkaufen abgegebene Babys an wohlhabende Paare, die auf legalem Weg kein Kind adoptieren können. Bei den neuen Eltern erwartet die Kinder schließlich eine weitaus bessere Zukunft als im Waisenhaus. Und für die beiden Männer ist diese ehrbare scheinende Form des Menschenhandels zudem sehr lukrativ. Als jedoch die Mutter des Kindes aus Gewissensbissen zurückkehrt und ihnen auf die Schliche kommt, möchte sie bei der Auswahl der neuen Adoptiv­eltern mitentscheiden.

Die Babyklappe wurde in Südkorea erstmals 2009 von einem Pfarrer in einem Vorort von Seoul eingerichtet, nachdem er vor der Kirche ein erfrorenes Baby aufgefunden hatte, das eine Mutter dort abgelegt hatte. ­Adoptionen sind in dem Land immer noch ein großes Tabu. Seit dem Ende des Korea-Kriegs 1953 wurden mehr als 100 000 südkoreanische Kinder in den USA zur Adoption freigegeben. Viele entstammten Beziehungen zwischen US-Soldaten und Korea­nerinnen. Mittlerweile ist die Vermittlung von Kindern ins Ausland untersagt. Zudem gilt seit 2012 ein Gesetz, das es den zur Adoption freigegebenen Kindern ermöglicht, die Identität ihrer leiblichen Eltern in Erfahrung zu bringen. Seitdem geben kaum mehr Mütter ihr Kind auf dem regulären Weg ab. Was den Kindern helfen sollte, führt dazu, dass mittlerweile viel öfter Babys anonym in Babyklappen gelegt werden.

An diesem Problem setzt der Film an. Entziehen sich Mütter durch die Anonymität der Babyklappen nicht der Verantwortung ihrem Kind gegenüber? Oder sind es nicht eher gesellschaftliche Missstände, die sie dazu zwingen? Und was bedeutet es für die Kinder, nicht zu wissen, wer die Eltern sind und warum man abgegeben wurde? Der Film möchte darauf zum Glück keine allzu einfachen Antworten geben. Koreeda interessiert sich vielmehr für den menschlichen Wunsch, eine familiäre Einheit zu bilden, wie er in einem Interview mit dem British Film Institute erzählte. Denn er habe selbst ähnliche Erfahrungen durchlebt, als er seine Eltern verlor.

Koreeda gehört unbestreitbar zu den großen Humanisten des internationalen Kinos.

Wie auch schon in »Shoplifters« ist das Familienbild, für das der Film plädiert, ein Gegenentwurf zum Ideal der bürgerlichen Kleinfamilie. Die Familie in »Broker« existiert allerdings nur für die Dauer eines Roadtrips quer durch Südkorea, auf den Koreeda seine drei Protagonist:innen samt Baby schickt, um die passenden Eltern zu finden. Dabei werden sie von zwei Polizistinnen vom Jugend- und Familiendezernat verfolgt, die den beiden »Brokern« (im Börsenjargon die Bezeichnung für Finanzmakler) schon lange auf den Fersen sind und nur darauf warten, sie bei einem Babydeal verhaften zu können.

Koreeda gehört unbestreitbar zu den großen Humanisten des internationalen Kinos. Wenn er in »Nobody Knows« beispielsweise von vier Kindern erzählt, die von ihrer Mutter über Monate hinweg allein in der Wohnung zurückgelassen werden, dann sind es nicht nur die stetige Verwahrlosung und die damit einhergehende Härte des Lebens, auf denen sein Augenmerk liegt. Es interessieren ihn vielmehr die Liebe, der Zusammenhalt und die Fürsorge unter den Kindern, die, völlig auf sich allein gestellt, versuchen, ihren Alltag zu bestreiten.

In »Like Father, Like Son« werden zwei Elternpaare erst nach mehreren Jahren damit konfrontiert, dass ihre Kinder nach der Geburt versehentlich vertauscht wurden. Einer der Väter, ein reicher Geschäftsmann, sieht sich dabei mit der Frage konfrontiert, was Elternschaft für ­einen Wert hat, wenn man sich für das Kind kaum Zeit nimmt. Auch in »Shop­lifters« stehen der Zusammenhalt und die Zuneigung innerhalb der Familie im Fokus. Als eines der Kinder ein kleines, offenbar von seinen Eltern misshandeltes Mädchen mit nach Hause nimmt, ist es für den Rest der Familie eine Selbstverständlichkeit, sie als neues Mitglied mit aufzunehmen.

Koreedas große Kunst besteht auch in »Broker« darin, die Geschichte mit einem gleichermaßen feinen Gespür für Melancholie und Heiterkeit zu erzählen, ohne je in Rührseligkeit zu verfallen. Es ist schon faszinierend, mit welcher Leichtigkeit und Unaufgeregtheit er seine Protago­nist:innen auf ihre Reise schickt. Als die Gruppe in einer Waschanlage eine unfreiwillige Dusche abbekommt, gehört der Moment ganz einem Jungen, der sich kurz zuvor ­unbemerkt an Bord geschlichen hat. Das unbeschwerte Grinsen auf seinem Gesicht und die ungehemmte Freude eines Kindes, das hier zum ersten Mal das Gefühl von familiärer Verbundenheit verspürt, kann einem Tränen in die Augen treiben. Die ungemeine Tiefe der Bilder liegt ­gerade im Understatement der Inszenierung und in der Beiläufigkeit, mit der der Film den grundlegenden Fragen des menschlichen Zusammenlebens nachgeht.

Daran hat vor allem auch der Cast seinen Anteil. Allen voran Song Kang-ho, der mit viel Charme und Witz einen der beiden am Ende doch liebenswürdigen Babynapper spielt und der vor allem durch Bong Joon-hos »Parasite« große Bekanntheit erlangte. Für seine Rolle in »Broker« wurde er im vergangenen Jahr in Cannes mit der Goldenen Palme als bester Schauspieler ausgezeichnet.

Neben ihm besticht auch Lee Ji-eun, in Südkorea einer der größten Popstars, als zweifelnde und gebrochene Mutter. In einer der berührendsten Szenen des Films blickt sie mit Dong-soo (Gang Dong-won), dem anderen der beiden Kriminellen, am Fenster stehend aufs Meer hinaus und erzählt: »Ich träume manchmal, dass es regnet. Und der Regen wäscht ­alles ab, was ich mit mir herumtrage. Aber wenn ich die Augen aufmache, sehe ich, dass es immer noch nicht aufgehört hat zu regnen. Und nichts an mir hat sich geändert.« In Dong-soos einfacher Antwort steckt die unaufgeregte Poesie von Hirokazu Koreedas Filmen: »Vielleicht brauchst du nur einen Regenschirm. Einen großen. Groß genug für zwei Leute.«

Broker – Familie gesucht (Südkorea 2022). Buch und Regie: Hirokazu Koreeda. ­Darsteller: Song Kang-ho, Bae Doona, Gang Dong-won