Russlands Behörden werfen ­Memorial »Rehabilitierung des Nationalsozialismus« vor

Razzia bei Bürgerrechtlern

Die russische Polizei hat die Wohnungen von Mitgliedern der Menschenrechtsorganisation durchsucht. Die Behörden verschärfen allenthalben ihre Repressalien.

In Moskau begann vergangene Woche der kalendarische Frühling mit einer Reihe von Hausdurchsuchungen bei Mitarbeitenden der Organisation Memorial. In neun Wohnungen – darunter die einer nahen Verwandten – und in den Büroräumen suchte die Polizei nach kompromittierendem Beweismaterial und beschlagnahmte Computer, Handys und Kommunikationsmittel aller Art. Es folgten Vernehmungen im Rahmen eines Anfang März eingeleiteten Strafverfahrens wegen »Rehabilitierung des Nationalsozialismus«.

Das ist ein starker Vorwurf auf absolut fragwürdiger Grundlage. Dass es sich hierbei um einen Vorwand handelt, um Memorial in der Öffentlichkeit zu diskreditieren und Zugang zu Dokumenten und Privaträumen zu erhalten, ist naheliegend. Anlass für das scharfe Vorgehen bot den Behörden der Umstand, dass sich in der von Memorial über viele Jahre erstellten historischen Datenbank über Opfer politischer Gewaltherrschaft der Sowjetunion unter den über drei Millionen Einträgen Namen von drei Personen finden, die niemals rehabilitiert wurden und den russischen Behörden zufolge Nazi-Kollaborateure gewesen sein sollen.

Zwei der drei Namen finden sich sogar in einem offiziellen Gedenkbuch der Republik Tatarstan, das unter Mitwirkung der lokalen Behörden einschließlich der Leitung der Polizei- und Sicherheitsorgane entstanden war. Trotzdem war Ende 2021 bei der Staatsanwaltschaft eine Beschwerde der Organisation »Veteranen Russlands« eingegangen wegen der Namensnennung in einer bereits zuvor erschienenen Publikation von Memorial, woraufhin Memorial beim Föderalen Sicherheitsdienst (FSB), dem russischen Inlandsgeheimdienst, eine Anfrage nach der Strafakte der betreffenden Personen stellte. Bislang hatten Memorial-Historiker lediglich Kenntnis von dem Strafrechtsparagraphen, nach dem diese verurteilt worden waren. Nicht bekannt ist außerdem, aus welchem Grund die zuständige Staatsanwaltschaft deren Rehabilitierung verweigert hatte.

Bei der dritten Person handelt es sich um einen Deutschen, der im Zuge einer der stalinistischen »Säuberungsaktionen« deportiert worden war. Einzig aus diesem Grund fand er Eingang in die Memorial-Datenbank. Dass ein Gericht gegen ihn 1954, also Jahre nach der Deportation, ein Urteil wegen NS-Kollaboration gefällt hatte, war Memorial nicht bekannt.

Die Durchsuchungen und Vernehmungen verliefen unter Missachtung geltender Vorschriften. Anwälte erhielten keinen Zugang, Vernehmungsprotokolle wurden nicht ausgehändigt. Als eine der Befragten, Aleksandra Poliwanowa, um eine Kopie bat, erhielt sie nach eigenen Angaben lediglich die Rückmeldung, wenn sie angeklagt werden wolle, könne sie gerne eine bekommen. Bislang richten sich die Ermittlungen gegen unbekannt, so dass alle von dieser Strafsache Betroffenen vorerst als Zeugen eingestuft werden. Nachdem Poliwanowa mit Journalisten gesprochen hatte, verhängten die Behörden prompt gegen alle an dem Ermittlungsverfahren Beteiligten ein Verbot, sich dazu zu äußern.

Gegen Oleg Orlow, Vorstandsmitglied bei Memorial International und Leiter des Menschenrechtszentrums von Memorial, wurde indes noch am selben Tag ein Strafverfahren wegen wiederholter »Diskreditierung« der russischen Streitkräfte eingeleitet. Grund dafür war ein Beitrag auf seiner Facebook-Seite mit einem zuvor auf dem französischen Online-Portal Mediapart veröffentlichen Artikel, in dem Orlow den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine heftig kritisiert. Zwar befindet sich der Menschenrechtler auf freiem Fuß, aber unter der Auflage, Moskau nicht zu verlassen.

Im Vorwurf der »Rehabilitierung des Nationalsozialismus«lässt sich ein Vorwand vermuten, um Memorial zu diskreditieren und Zugang zu Dokumenten und Privaträumen zu erhalten.

Ende 2021 hatte Russlands Justiz ein Verbot gegen drei Memorial-Organisationen verhängt – Memorial International, das Menschenrechtszentrum und den Vereinsableger in Perm, dennoch ging die Arbeit in anderer Form weiter. Im Dezember erst bekam die Organisation den Friedensnobelpreis verliehen. Memorial ist ein weitverzweigtes Netzwerk und in Perm gelang es nach der Auflösung, innerhalb kurzer Zeit einen neuen Verein zu registrieren. Doch bereits Mitte März nahm die Polizei dort ebenfalls Durchsuchungen und Vernehmungen vor. Ausstellungsmaterial, Technik und weitere Gegenstände wurden ohne Quittung oder Protokoll beschlagnahmt, ein ehrenamtlicher Mitarbeiter über zwei Tage in Gewahrsam festgehalten.

Die Nachfragen der Polizei betrafen in erster Linie den Verbleib des Archivs der Organisation. Außerdem interessierte sich die Polizei für den ehemaligen Leiter von Memorial in Perm, Robert Latypow, der sich im Ausland aufhält. Nach der zwangsweisen Auflösung des Ortsvereins sollte das gesamte Permer Archiv an Memorial in Moskau zur Aufbewahrung geschickt werden. Dort kam es jedoch nicht an. »Vermutlich wurde das Archiv auf dem Weg beschlagnahmt«, sagte Latypow der Jungle World. »Was genau mit ihm passiert ist, klären wir noch.«

Als vor knapp elf Jahren in Russland das Gesetz über sogenannte ausländische Agenten in Kraft trat, schien es für als regimekritisch angesehene Gruppen noch Optionen zu geben, trotz der immer weiter verschärften Vorgaben und trotz ihres Status als »ausländischer Agent« weiterzuarbeiten. Doch inzwischen greift der Staatsapparat härter durch. Gleichzeitig mit den neuerlichen Attacken auf Memorial hat das Justizministerium die Auflösung des Moskauer Sowa-Zentrums beantragt hat. Sowa dokumentiert seit über 20 Jahren Fälle von rechter Gewalt und kritisiert die Anwendungspraxis der russischen Gesetze gegen »Extremismus«.