Zu wenig Chaos
Vermutlich würden wir verhungern. Oder verdursten. Auf jeden Fall aber bald mindestens halbtot sein.
Weil überall Chaos herrschen würde, zwar nur einen Tag, aber der Deutsche an sich reagiert nun eben sehr empfindlich auf chaotische Zustände. Und auf Streiks sowie natürlich ganz besonders auf das Chaos, das dadurch hervorgerufen wird.
Und so machte man sich an diesem Montagmorgen in fast allen Zeitungsredaktionen hoffnungsvoll ans Livetickern. Manche hatten Hubschrauber gemietet, so dass sie die neuesten Entwicklungen direkt und auf der Stelle an die geneigte Leserschaft weitergeben könnten; die meisten Redaktionen hatten aber bloß ihre Leute zu Flughäfen und Bahnhöfen geschickt.
Und dann blieb das Chaos einfach aus. Böses Chaos. Kein Stau in Köln, keiner in Dingens, keine vor Hunger und Durst delirierenden und verzweifelten Menschen am Flughafen, nichts, nix, nada, ingenting.
Das war natürlich enttäuschend, für die Leute am Liveticker jedenfalls, aber zum Glück war in Stuttgart gegen Mittag ein Maserati Marshall verunglückt, noch dazu in glänzendem Schwarz. Sah hübsch aus, als Kontrast zu den orangenen Westen der Rettungskräfte, die das Auto – zweifellos gebannt verfolgt von jeder Menge schwer gelangweilter Chaos-Reporter – geradezu vorbildlich wieder zurück auf die Straße expedierten.
Aber dann, ein Rentner am Frankfurter Hauptbahnhof. Gestrandet, mit seiner Frau! Ha! Und umgehend wieder Enttäuschung, kein hochbetagter Mann, der mit leiser Stimme um ein Schlückchen Wasser fleht, nicht für sich, natürlich, sondern für seine leblos in sich zusammengesunkene schwergezeichnete Ehefrau.
Nun, dann kämen sie halt heute nicht heim ins Sauerland, meinte er, bleibe man eben noch eine Nacht im Hotel. Im Übrigen, sagte er weiter, verstehe er die Streikenden und hoffe, dass sie bald mehr Geld bekämen.
So ein Jammer.