Chile, Land der Protestträume

Dem Feuer zugewandt

Patricio Guzmán begleitet in seinem neuen Dokumentarfilm »Mi país imaginario« erneut eine Zäsur in der Geschichte Chiles und setzt den Protesten der vergangenen Jahre in dem lateinamerikanischen Land ein Denkmal.

Es war abzusehen. Als 2020, während der Protestwelle in Chile, die Nachricht durchsickerte, dass Pat­ricio Guzmán dieses historische Ereignis filmisch begleitet, schien das fast unausweichlich. Schließlich gilt Guzmán seit 50 Jahren als einer der bedeutendsten Chronisten seines Landes.

In der vergangenen Dekade hatte er sich zur Aufgabe gemacht, in film­ischen Essays chilenische Landschaften zu erkunden – und in ihnen die dunklen Kapitel der Geschichte des Landes zu finden. So durchkämmte er in »Nostalgie des Lichts« (2010) die Atacama-Wüste und traf dort auf einen Sternenhimmel – und auf Massengräber der Diktatur. In »Der Perlmuttknopf« (2015) widmete er sich der langen Küste, an der die Konquistadoren strandeten, Massaker an indigenen Völkern verübten und das Pinochet-Regime weitere Leichen versenkte

Schließlich gleitet in »Die Kordillere der Träume« (2019) Guzmáns Kamera über die Anden und er fabuliert über den Zusammenhang zwischen politischem Wandel und den beständigen, isolierenden Bergketten. »Das Land meiner Träume«, wie sein neuer Film »Mi país imaginario« etwas verkitscht im deutschen Verleihtitel heißt, scheint nun, trotz des fehlenden Blicks auf die Natur, wie eine unvorhergese­hene Fortsetzung dieser Trilogie und widmet sich gleichsam dem Feuer und der Straße.

So beginnt der Film auf einer Fahrbahn. In einem eingeblendeten schwarzweiß flimmernden Fragment aus seinem Film »El primer año« von 1971 versammeln sich an den Rändern der Straße jubelnde Menschen, und mit biblischer Anmut hebt jemand ein Kind in den Himmel. Berauschende Hoffnung liegt in den Straßen. Die Menschen zelebrieren den Amtsantritt des sozialistischen Präsidenten Salvador Allende.

Pat­ricio Guzmán wurde 15 Tage lang als politischer Gefangener im nationalen Fußballstadion eingesperrt und fürchtete dort den Tod.

Dann erwähnt Guzmán einen Freund, der sein Leben veränderte. Der französische Filmemacher Chris Marker stand 1971 vor Guzmáns Haustür in Santiago, nahm die 16-mm-Rolle und das Tonband von »El primer año« nach Frankreich mit und brachte den Film in Europa auf die Leinwände. Die Freundschaft der beiden Filmaktivisten hielt an. Ihren Fortgang lässt der Film unerwähnt, doch es lohnt, ihn zu beleuchten.

Schon zwei Jahre später zeichnete sich der Militärputsch gegen Allende ab, den Guzmán umgehend festhalten wollte, jedoch mangelte es an Rohfilm. Er bat Marker in einem Brief um Hilfe und kurze Zeit später schickte dieser ihm Filmmaterial für 14 Stunden. Damit drehte Guzmán »La batalla de Chile« (1975), der heute als eines der wichtigsten Zeitzeugnisse von Allendes Entmachtung gilt. Im Zuge dessen wurde Guzmán 15 Tage lang als politischer Gefangener im nationalen Fußballstadion eingesperrt und fürchtete dort den Tod. Ihm gelang die Flucht nach Paris, wo Marker ihn vom Flughafen abholte und wo ­Guzmán heute noch lebt.

In »Mi país imaginario« setzt er einen Rat seines Freundes an den Anfang: »Wenn du ein Feuer filmen willst, musst du bereits vorher an dem Ort sein, wo die erste Flamme entfacht wird.« Was zunächst wie eine triviale Devise erscheint, ist tatsächlich mehr als wichtig. Guzmán saß nämlich in Paris vor dem Fernseher, als die Jugendlichen 2019 auf die Drehkreuze der Metro de Santiago stiegen, sich weigerten, die erhöhten U-Bahnpreise zu zahlen, und damit den entscheidenden Funken zündeten. Es begann eine Protestbewegung, die sich nicht nur gegen hohe Preise, sondern gegen das neolibe­rale Wirtschaftssystem als solches richtete. Guzmán erreichte Santiago ein Jahr später mit dem Ansinnen, die Proteste zu begreifen. Es ist der Blick eines gealterten Exilanten, der im andauernden Prozess seiner Erinnerungsarbeit auf die Zukunft blickt.

Die Distanz zu seinem Untersuchungsobjekt wird auch durch die Kamera klargemacht. Drohnenauf­nahmen aus großer Entfernung sind untermalt von Guzmáns gewohnt ­geschliffenen wie bedächtigen Voice-overs. Darin greift er immer wieder zu Sprachbildern, die zum Pathos neigen, aber auch einleuchten. Beispielsweise dann, wenn er die herausgerissenen Pflastersteine, die als Waffen fungieren, anmutig ins Bild rückt, als wären es sorgfältig gehauene Skulpturen. »Alte Freundinnen« nennt er die Trümmer, die ihm vor die Füße geschleudert wurden, und beschreibt die Begegnung mit ihnen in poetischer Naivität: »Es scheint, als hätte es Steine geregnet.«

Seine Worte evozieren von Beginn an die kollektiven Handlungen der Protestierenden als unaufhaltbare Natur­gewalt. Später zeigt wieder eine Drohnenaufnahme, wie sich das Menschenmeer wie eine Welle aufbäumt, um Barrikaden niederzureißen. Wenn die Kamera dann doch die Distanz aufhebt und sich zwischen Gummigeschossen, Tränengas und zerschellenden Steinen tummelt, scheint sie ein wenig verloren.

Ein Aspekt moderner Protestformen sticht Guzmán bei seiner Annäherung ins Auge: Sie operieren dezentral, ohne Instanzen, die ein ideologisches Fundament vorgeben. Vordergründig richtet sich der Protest gegen die schreiende ökonomische Ungleichheit des Landes, die von den sogenannten Chicago Boys voran­getrieben wurde, einer Gruppe von Ökonomen, die zur Pinochet-Zeit ihre Deregulierungs- und Privatisierungsphantasien ausleben durften. Doch es geht um einen grundsätzlicheren Wandel: eine neue Verfassung. Um diese Notwendigkeit zu ergründen, interviewt Guzmán eine Reihe von Frauen.

Zunächst begegnet er einer jungen Mutter mit Gasmaske, Skibrille und einer Balaclava, an die Blumen geheftet. Sie kämpft in der primera línea, der ersten Reihe, die sich den Angriffen des Militärs stellt. Später sprechen die Linguistin Elisa Loncón, die als Vorsitzende des Verfassungs­konvents die Mapuche repräsentiert und zu einer Symbolfigur wurde, und das Kollektiv Las Tesis, die die feministische Hymne »El violador eres tú« und die daran anknüpfende Performance kreierten, die seither weltweit für andere Demonstrationen adaptiert wird.

Guzmáns Worte evozieren von Beginn an die kollektiven Handlungen der Protestierenden als unaufhaltbare Naturgewalt.

In dieser Polyphonie schält sich eine Idee des Widerstands heraus, die eine neue solidarische Beziehungsweise sucht. Die Protestierenden wollen überwinden, was die feministische Theoretikerin Rita Segato als »Pädagogiken der Grausamkeit« bezeichnet. Ein Paradigma, das seit der Kolonisierung die Verfügungsgewalt verstärkt, die den weiblichen Körper und die Natur einhegt und erschöpft. Die Interviewpartnerinnen in Guzmáns Film verdeutlichen: Gekämpft wird längst für mehr als faire Metropreise, die Verhinderung einzelner Abbauprojekte oder die Legalisierung von Abtreibung – es geht um die Überwindung einer Herrschaftsform.

Allerdings gelangt die Umwälzungsstimmung von »Mi país imaginario« zu einem Zeitpunkt in die deutschen Kinos, an dem in Chile Ernüchterung eingekehrt ist. Die neue Regierung unter dem Hoffnungsträger Gabriel Boric hat im September vergangenen Jahres ihren ersten Rückschlag erfahren, denn der von ihr unterstützte Entwurf für eine neue Verfassung wurde abgelehnt. Im Mai wird für einen zweiten Anlauf ein neuer Verfassungskonvent gewählt.

»Mi país imaginario« ist keine romantisierende Projektion eines Altlinken, Guzmán erkennt die Fragilität der Errungenschaften und hängt keinem linearen Fortschrittsdenken an. Durch das Prisma seiner eigenen Erfahrung verdeutlicht er jedoch, wie wohltuend Widerstand sein kann. So besucht er erneut das Stadion, in dem er einst unter Pinochet gefangengehalten wurde und in dem nun Delegierte für den Verfassungskonvent gewählt wurden. Derartige Gesten erschöpfen sich nicht in ihrer Symbolik, Guzmán unterstreicht ­damit, wie nah ihm persönlich die Kämpfe sind – und dass er nicht anders kann, als in die Geschichte zu schauen, während das Feuer ihn zur Zukunft treibt.

1971 schrieb Guzmán in einem Brief an Chris Marker, er wolle einen Film drehen, der einem mural gleiche, einer Form der Wandmalerei, die sich vor allem nach der Mexikanischen Revolution großer Beliebtheit erfreute. Vielleicht ist ihm das mit »Mi país imaginario« gelungen. Zwar sind Guzmáns behutsame Bilder weit entfernt von den dramatischen Kompositionen der Muralisten, jedoch hält er wie sie in einem einprägsamen Figurenensemble und symbolträchtigen Kampfszenen einen revolutionären Moment fest.

Mi país imaginario – Das Land meiner Träume (Frankreich/Chile 2022). Buch und Regie: Patricio Guzmán. Filmstart: 13. April