Darren Aronofskys Spielfilm »The Whale« hat eine Debatte über Fat Shaming ausgelöst

Existentiell bedroht

Der Kontroverse um den Fatsuit zum Trotz: Selbst die Kritiker des Films loben Hauptdarsteller Brendan Fraser für seine unter die Haut gehende Darstellung eines stark depressiven Menschen.

»Am traurigsten fühlte ich mich, als ich die langweiligen Kapitel las, die nur Beschreibungen von Walen enthielten. Weil ich wusste, dass uns der Autor nur für eine Weile von seiner eigenen langweiligen Geschichte retten wollte.« Immer wieder liest der übergewichtige Mann diese Sätze in einem abgeranzten Hefter. Sie scheinen sein Rettungsanker zu sein.

Warum sich der adipöse Charlie so vehement an die Zeilen klammert, erkundet der Film »The Whale« auf berührend-beklemmende Weise. Der US-amerikanische Regisseur Darren Aronofsky entfaltet sein Drama um einen 600 Pfund schweren Mann im Stil eines intimen Kammerspiels, das fast ausschließlich im Wohnzimmer stattfindet.

In der Rolle des depressiven Englischlehrers brilliert der wegen zahlreicher Krisen und einer schweren Depression von vielen bereits abgeschriebene Schauspieler Brendan Fraser. Für die Rolle erhielt er den Oscar, und zu Recht wurde auch das Maskenbildnerteam mit dem Preis ausgezeichnet.

Protagonist Charlie frisst sich irgendwo in Idaho buchstäblich dem Tod entgegen.

»Warum schaltet er nie seine Kamera ein?« Zu Beginn wundern sich die Schüler in der Zoom-Konferenz, warum sich ihr Nachhilfelehrer Charlie nie via Webcam zeigt. Das hat seinen Grund: Charlie leidet an Adipositas und schämt sich dafür. Er kann einfach nicht aufhören zu ­essen, ja, er frisst sich irgendwo in Idaho buchstäblich dem Tod entgegen. Seine Wohnung kann er nicht mehr verlassen, er bewegt sich dar­in auch nur schwerfällig.

Meistens sitzt er auf der Couch. Fast Food liefert der Bringdienst, Einkäufe übernimmt die befreundete Krankenschwester Liz, die weiß, dass Charlie sterben wird, wenn er weitermacht wie bisher. Auch um sein Selbstmitleid zu überwinden, versucht Char­lie, mit seiner 17jährigen Tochter Ellie Kontakt aufzunehmen, die bei ihrer Mutter lebt. Er ködert das Mädchen mit dem Angebot, ihr als Ghostwriter bei einem Englisch-Aufsatz zu helfen. Und erhält nun regelmäßig ­Besuch von einer störrischen und scharfzüngigen Teenagerin.

Dieser Film tut weh, gerade in den heiteren Momenten. Wenn Charlie lacht zum Beispiel und daran fast erstickt. Jede Bewegung bereitet ihm Schmerzen. Das stellt Regisseur Aronofsky von Anfang an klar, wenn der Lehrer nach Beendigung seines ­Unterrichts zu einem Porno masturbiert und dabei fast erstickt. Ironischerweise tritt genau in dem Moment ein junger Missionar durch die stets offene Tür seines Zuhauses.

Die Haustür ist quasi Charlies Tor zur Welt, die er nicht mehr betreten kann – sie muss zu ihm kommen in Form von Pizza oder in Gestalt von Liz oder dem Laienprediger, der wie aus dem Nichts auftaucht und ihn aus dem Nahtod rettet. Der Film ist voll solcher symbolischer Momente, und natürlich legt der titelgebende Wal literarische Deutungen nahe: Der Wal steht für eine selbstzerstörerische Jagd – wie bei Melville –, aber auch für die Furcht vor dem Leben und die mögliche Errettung – wie in der biblischen Überlieferung.

Deutlich sind die Bezüge auf Jona, der im Bauch eines Wals landet und dadurch vor dem Ertrinken gerettet wird. Charlie trauert um seinen verstorbenen Lebensgefährten. Alan starb an einer heimtückischen Krankheit und konnte zuletzt keine Nahrung mehr aufnehmen. Unfähig, sich seine eigene Rolle beim Tod seines Partners zu verzeihen, stopft Charlie das Essen in sich hinein. Die Frage nach Schuld und Verantwortung für den anderen prägt die Dialoge mit dem Missionar. Obgleich Charlie nicht gläubig ist, sucht er nach einer Art Erlösung, einer Transformation, einem Neuanfang.

Deutlich sind die Bezüge auf Jona, der im Bauch eines Wals landet und dadurch vor dem Ertrinken gerettet wird.

Auch Herman Melvilles Roman »Mo­by-Dick«, auf den sich die eingangs zitierten Zeilen beziehen, gibt eine Dimension des Dramas vor. So wie Kapitän Ahab voller Hass dem ­weißen Wal nachjagen muss, der ihm ein Bein abgerissen hatte, kann Charlie seine Vergangenheit nicht loslassen. Die schwierige Beziehung zwischen Charlie und seiner Tochter Ellie bildet den existentiellen Konflikt des Films, den man erst spät erfasst.

Charlie ist ein Getriebener. Während des ganzen Films ziehen sich dunkle Wolken über dem grundsympathischen Charakter zusammen. Der Film ist perfekt konstruiert, die Dialoge geschliffen, was einen Grund hat: Er basiert auf dem gleichnamigen Theaterstück von Samuel D. Hunter, der auch das Drehbuch zum Film ­geschrieben hat. In »The Whale« verarbeitet er eine Phase seines Lebens, als er selbst stark adipös war und unter seinem Gewicht gelitten hat. »The Whale« hat schnell eine Debatte über Fat Shaming und die Legitimität von Fatsuits zur Darstellung adipöser Charaktere ausgelöst.

»Ich kenne viele Menschen, die übergewichtig, glücklich und gesund sind, aber ich war es nicht«, sagt Hunter im Interview der Pressemitteilung. »Ich ­hatte eine Menge unterdrückter Emotionen, die aus meiner christlich-fundamentalistisch geprägten Jugend stammten, in der meine Sexualität auf hässliche Weise unterbunden wurde, und das schlug sich in einer ungesunden Beziehung zum Essen nieder. Als ich ›The Whale‹ schrieb, sprudelte das vermutlich alles aus mir heraus.«

Wie das Bühnenstück setzt der Film ganz auf die körperliche Präsenz und den sprachlichen Vortrag des schwerst depressiven Protagonisten. Vor allem in den vielen Close-ups, bei denen man jedes Äderchen an seinem Hals pulsieren sieht, kommt man Charlie ganz nah. Fraser gelingt es, nicht nur mit der Mimik zu überzeugen. Auch mit seiner Körpersprache vermag er es, den – umstrittenen – Fatsuit mit Leben zu füllen.

Wer den Darsteller aus Blödeleien wie »Airheads« und »Steinzeit Junior« oder den Abenteuerspielchen der »Mumie«-Reihe kennt, ist erstaunt über seine Ernsthaftigkeit. Um die Rolle auszufüllen, trug der Schauspieler während der Drehtage über Stunden eine schwere Körperfettprothese. Zudem gelang es Maskenbildner Adrien Morot, Frasers Gesicht so realistisch zu modellieren, dass selbst Härchen und Poren in Nahaufnahme absolut echt wirken. Hinzu kommen die brüchige Stimme und Kurzatmigkeit, die unter die Haut gehen.

Fatsuits haben eine unrühmliche Tradition im Hollywood-Kino, sie dienten zumeist dazu, übergewichtige Charaktere in Komödienformaten lächerlich zu machen.

Der Aufwand, der betrieben wurde, um den normalgewichtigen Darsteller in den adipösen Charlie zu verwandeln, ließ die Frage aufkommen, warum man nicht gleich einen korpulenten (besser noch einen korpulen­ten schwulen) Schauspieler gecastet hat. Allerdings beschäftigt sich der Film nicht einfach mit einem übergewichtigen, sondern mit einem ex­trem übergewichtigen Menschen.

Es sei nicht möglich, mit einer Person, die tatsächlich so enorm fettleibig ist, einen solch anstrengenden Dreh zu meistern, verteidigte Aronofsky seine Casting-Entscheidung. Richtig ist, dass Fatsuits eine unrühmliche Tradition im Hollywood-Kino gespielt haben, dienten sie doch zumeist dazu, übergewichtige Charaktere in Komödienformaten lächerlich zu machen.

Das ist bei »The Whale« anders. Nie wird Charlie ausgestellt, nie blickt der Film voyeuristisch auf den Übergewichtigen. Es geht um Menschlichkeit. Dieser Film ist mitreißend. Besonders intensiv fallen die Streitgespräche zwischen Charlie und seiner Tochter Ellie aus, ihre Beziehung ist komplex.

Nur widerwillig besucht sie ihren Vater, ist noch immer verletzt, weil er die Familie verließ, als sie ein Kind war. »Stranger Things«-Star Sadie Sink spielt diese junge Frau, deren dunkle Seite bisweilen aufblitzt. Hier treten Verletzung und Entfremdung zutage, es werden große Gefühle in kleinen Gesten sichtbar – und das Hoffen auf gegenseitiges Verzeihen.

»The Whale« ist Schauspiel pur. Der Film packt den Zuschauer sofort und lässt ihn dann melancholisch gestimmt zurück, wenn Charlie am Ende wieder den schmuddligen Hefter hervorzieht und liest: »Er ist einfach ein armes großes Tier. Ahab tut mir auch leid, weil er denkt, sein Leben würde besser, wenn er den Wal tötet. Aber das wird ihm in Wirklichkeit nicht helfen.«

The Whale (USA 2022). Regie: Darren Aronofsky. Buch: Samuel D. Hunter. Darsteller: Brendan Fraser, Sadie Sink, Hong Chau, Samantha Morton, Ty Simpkins. Filmstart: 27. April