Der Kreml-Kritiker Kara-Mursa wurde zu 25 Jahren Strafkolonie verurteilt

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Russische Gerichte verhängen immer längere Haftstrafen gegen Oppositionelle. Nun wurde Wladimir Kara-Mursa zu 25 Jahren Haft verurteilt.

25 Jahre Strafkolonie für einen russischen Oppositionspolitiker stellen im postsowjetischen Russland einen Rekord dar. Die Justizverfahren orientieren sich immer mehr an historischen Vorbildern. Am 18. April, nur einen Tag nachdem dieses drakonische Urteil gegen Wladimir Kara-Mursa wegen Hochverrats fiel, verabschiedete die Staatsduma in zweiter und dritter Lesung ein Gesetz, das als Höchststrafe für Landesverrat statt der bislang festgeschriebenen 20 Jahre Haft in Zukunft lebenslänglichen Freiheitsentzug vorsieht. Noch im April will der Föderationsrat, das russische Oberhaus, sich damit befassen.

Kara-Mursa ist einer der engsten Wegbegleiter des 2015 vor den Kreml-Mauern im Zentrum Moskaus ermordeten Oppositionspolitikers Boris Nemzow. Auf dessen Anstoß hin betrieb Kara-Mursa, der auch die britische Staatsangehörigkeit besitzt und zeitweise in den USA als Journalist tätig war, Lobby­arbeit in Washington, die 2012 in die Verabschiedung des sogenannten Magnitsky Act durch den US-Kongress mündete, mit dem russische Beamte bestraft werden sollten, die für den Tod des russischen Steueranwalts Sergej Magnitskij in einem Moskauer Gefängnis im Jahr 2009 verantwortlich sind. Mit diesem politischen Erfolg der russischen Opposition wurde eine Wende im Umgang mit Russland eingeleitet. Von nun an konnten die USA personenbezogene Sanktionen gegen russische Staatsvertreter verhängen, später folgten auch Großbritannien und die Europäische Union.

Nach Beginn des Angriffs auf die Ukraine wurde Kara-Mursa zunächst wegen angeblicher Falschaussagen über die russischen Streitkräfte festgenommen. Als weitere Anklagepunkte kamen später die Zusammenarbeit mit dem ehemaligen Oligarchen Michail Chodorkowskij und öffentliche Kritik am Ukraine-Krieg hinzu. Für schuldig wurde er des Hochverrats befunden. Kara-Mursa verglich seinen Prozess mit den Schauprozessen unter Stalin in den dreißiger Jahren.

In die Fänge der russischen Justiz geraten auch Menschen, die sich mit Mitteln der direkten Aktion zu Wehr setzen. Es gab seit Kriegsbeginn Dutzende Fälle von Brandstiftung an Militärkommissariaten für die Rekrutierung. Ende Januar fiel erstmals ein Urteil, das eine solche Tat als »Terrorismus« einstuft. Wladislaw Borisenko aus Nischnewartowsk erhielt zwölf Jahre Haft, der Mitte März verurteilte Kirill Butylin aus dem Moskauer Umland 13. Obwohl wegen Antikriegsaktionen, bei denen Molotow-Cocktails zum Einsatz kommen, gelegentlich mildere Haftstrafen verhängt werden, weist die Tendenz auf eine deutliche Anhebung des Strafmaßes hin.

Warnungen davor, die Rekrutierungs­stellen der Armee aufzusuchen, können in Russland strafrechtlich verfolgt werden.

Am bislang härtesten traf es Roman Nasrijew und Aleksej Nurijew, 28 und 37 Jahre alt, aus der Kleinstadt Bakal im Gebiet Tscheljabinsk: 19 Jahre Haft wegen versuchter Brandstiftung an einem Verwaltungsgebäude, in dem sich eine Wehrerfassungsstelle befindet. Nur der Bodenbelag aus Linoleum entzündete sich, der Wachschutz löschte das Feuer umgehend. Auch diese Tat stufte die Justiz als Terrorismus ein; Nasrijew argumentierte vor Gericht, er habe nicht den Eindruck, dass solche Aktionen in der Bevölkerung Angst und Schrecken verbreiteten. Er habe nur seine Ablehnung der Teilmobilisierung und dem Krieg als solchen zum Ausdruck zu bringen wollen. Das sehr hohe Strafmaß könnte mit den Berufen der beiden Kriegsgegner zu tun haben: Nurijew ist beim Katastrophenschutzministerium angestellt, Nasrijew hat als Fahrer für den Wachschutz der Nationalgarde gearbeitet. Dass sich in staatlichen Strukturen Widerstand ­gegen den offiziellen Kriegskurs breitmacht, dürfte dem Machtapparat missfallen.

Warnungen davor, die Rekrutierungsstellen der Armee aufzusuchen, können strafrechtlich verfolgt werden. So wurden jüngst Strafermittlungen ­gegen Marija Menschikowa vom unabhängigen Studierendenmagazin Doxa wegen »Rechtfertigung von Terrorismus« eingeleitet, worauf bis zu sieben Jahre Haft stehen. Anlass bot den Behörden ein ­Doxa-Beitrag im russischen sozialen Medium Vkontakte. Menschikowa hält sich als Doktorandin in Bochum auf. »In einem faschistischen Regime wird alles auf den Kopf gestellt: Krieg ist Frieden und Freiheit ist Sklaverei. Und die größte Bedrohung für die Faschisten ist die Solidarität der Menschen, die sich kümmern, was jetzt mit ›Terrorismus‹ gleichgesetzt wird«, sagte Menschikowa der Nachrichten-Website Meduza über das Verfahren gegen sie.

Im benachbarten Belarus läuft die Abrechnung mit politischen Oppositionellen ebenfalls auf vollen Touren. Am Freitag vergangener Woche forderte die Staatsanwaltschaft unter anderem wegen Organisation von Massenunruhen zehn Jahre Gefängnis für Roman Protasewitsch. Der in umfassend geständige ehemalige Chefredakteur des oppositionellen Telegram-Kanals Nexta wurde 2021 festgenommen, nachdem ein Ryanair-Flugzeug mit ihm als Passagier in Minsk zur Landung gezwungen worden war. Prota­sewitschs damalige Lebensgefährtin, die in Belarus zu sechs Jahren Haft verurteilte russische Staatsangehörige Sofia Sapega, habe Meduza zufolge nach Angaben der russischen Botschaft Mitte April in ihre Auslieferung an Russland eingewilligt.

Vor dem Hintergrund einer immer länger werdenden Liste staatlich Verfolgter werden erfreulichere Nachrichten bisweilen übersehen. Seit vergan­gener Woche ist Julij Bojarschinow nach fünfeinhalb Jahren Strafkolonie wieder in Freiheit. Ein Militärgericht hatte den Antifaschisten aus der anarchistischen Szene 2020 für schuldig befunden, einer terroristischen Gruppe namens »Netzwerk« anzugehören.