Das französische Sozialsystem ist ein Vermächtnis aus der Nachkriegszeit

Von der Résistance zur Renaissance

Die Gegner der Rentenreform sehen diese als Angriff auf das franzö­si­sche Sozialsystem als Ganzes und das historische Erbe des gaullistisch-kommunistischen Befreiungskompromisses. Auf den Schildern der Demonstrierenden ist derzeit oft der kommunistische Minister Ambroise Croizat zu sehen, der das französische Sozialsystem entwarf.

Obwohl der französische Verfassungs­rat ihm eine Frist von 15 Tagen ein­ge­räumt hatte, unterzeichnete Präsident Emmanuel Macron sein Gesetz zur Reform des französischen Renten­sys­tems noch am Abend des 14. April. Nur wenige Stunden zuvor hatte das Gremium – angerufen von der Opposition, um die Reform auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin zu prüfen – das Gesetzesvorhaben bestätigt und außerdem den von Reformgegnern eingebrachten Antrag, ein Referendum über das Gesetz abzuhalten, abgelehnt; ein solches Referendum wäre das letzte Rechtsmittel gegen die Reform gewesen. Damit steht im Grunde fest, dass Macrons Rentenreform kommen wird, außer Macron selbst tritt noch von dem Vorhaben zurück. Die anhaltenden Proteste zeigen jedoch, dass viele Franzosen das So­zialversicherungssystem verteidigen wollen.

Das französische Sozialmodell, das seine Gegner als veraltet und unwirtschaftlich ansehen, ist in den vergangenen Jahrzehnten oft angegriffen worden. In einem Leitartikel des Magazins Challenges aus dem Jahr 2007 gab Denis Kessler, der Vorsitzende von Scor SE, einem der größten Rückversicherungsunternehmen weltweit, den Kurs vor: »Es geht heute darum, 1945 hinter sich zu lassen und das Programm des Conseil national de la Résistance nach und nach abzuschaffen!« Das bei der Befreiung Frankreichs eingeführte Sozi­alschutzmodell gilt vielen Franzosen als ein Erbe, das um jeden Preis zu verteidigen sei, anderen hingegen als Ballast für die Wirtschaft, den man möglichst schnell abwerfen müsse.

Macron hat nie Zweifel daran gelassen, wo er in diesem Konflikt steht. Bereits während des Präsidentschaftswahlkampfs 2017 teilte der Kandidat der Partei En marche (mittlerweile Renaissance) seine Absicht mit, das aus der Phase der Libération, der Befreiung von der deutschen Besatzung und dem Wiederaufbau der Republik, hervorgegangene französische Sozialmodell zu reformieren, und sagte am 4. September 2016 beim Nachrichtensender France info: »Das Modell der Nachkriegszeit funktioniert nicht mehr. Der politische, wirtschaftliche und soziale Konsens, der 1945 begründet und 1958 vervollständigt wurde, ist hinfällig.«

»Wir werden aus der Rente nicht mehr das Vorzimmer des Todes, sondern eine neue Etappe des Lebens machen.« Ambroise Croizat, Gründer des französischen Sozialsystems, 1945

Wie Macron hier den sozialen Rückschritt rhetorisch als Fortschritt verkauft, ist typisch für sein politisches Programm. Bereits im Jahr 2019 strebte er eine vollständige Neugestaltung des Rentensystems an – Ansprüche hätten sich aus einem Punkte- statt nach dem Umlageverfahren berechnen sollen –, die aber nach wochenlangen Protesten und dem Ausbruch der Pandemie begraben wurde. Am 25. April 2019 beteuerte Macron auf einer Pressekonferenz noch, dass es in Anbetracht hoher Arbeitslosigkeit und schlechter Arbeitsbedingungen »heuchlerisch« wäre, das gesetzliche Renteneintrittsalter auf 64 Jahre zu erhöhen.

Nun, vier Jahre später, ist genau das der wichtigste Teil des Reformprojekts, das er und seine Premierministerin Elisabeth Borne vorantreiben. Die Regierung stellt die Reform als sozial ­gerecht und notwendig für den Erhalt des umlagefinanzierten Rentensystems dar. Ihre Kritiker hingegen halten sie für ungerecht, undemokratisch und ideologisch motiviert.

Einer Umfrage der Informationsagentur Harris interactive vom 27. März zufolge lehnen mehr als 70 Prozent der Franzosen die Reform ab. Im Januar gaben in einer ­Studie des Institut Montaigne nur sieben Prozent der Erwerbstätigen an, die Reform zu befürworten. Aus Angst, für das politische Projekt keine Mehrheit im Parlament zu erhalten, wählten Macron und seine Premierministerin den ­rigorosen Weg und nutzten Artikel 49.3 der Verfassung, der es ermöglicht, ein Gesetz ohne Abstimmung im Parlament zu verabschieden, sollte die Regierung ­einen Misstrauensantrag abwehren können – was gelang.

Der harten Art und Weise, wie das Gesetz quasi am Parlament vorbei durchgesetzt wurde, folgte auf der Straße die Härte der Polizei. Während die Demonstrationen zunächst relativ ruhig ver­liefen, kam es nach der Ankündigung, den Artikel 49.3 anzuwenden, am 16. März zu einem repressiven Strategiewechsel mit Hunderten von willkürlichen Festnahmen und exzessiver Gewaltanwendung. Daraufhin äußerten neben verschiedenen Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty Inter­national auch der Europarat und die Vereinten Nationen Besorgnis über das rücksichtslose Vorgehen der französischen Exekutive.

Auffällig oft beziehen sich die Demonstranten auf die lange Tradition des französischen Sozialsystems. Insbesondere ein Name ist immer wieder auf Schildern zu lesen: Ambroise Croizat, Gewerkschafter und Mitglied der französischen KP.

Auffällig oft beziehen sich die Demonstranten auf die lange Tradition des französischen Sozialsystems. Insbesondere ein Name ist immer wieder auf Schildern zu lesen: Ambroise Croizat, Gewerkschafter und Mitglied der französischen KP. Als Minister für Arbeit und soziale Sicherheit während der Libération (1945–1947) führte er das allgemeine Sozialversicherungssystem ein. In seiner ersten Rede als Minister vor der Verfassunggebenden Versammlung am 3. Dezember 1945 fasste Croizat sein Programm so zusammen: »Von nun an schützen wir den Menschen vor Bedürftigkeit. Wir werden aus der Rente nicht mehr das Vor­zimmer des Todes, sondern eine neue Etappe des Lebens machen.«

Die Entwickler dieser Sécurité sociale, kurz Sécu genannt, wollten die Sozial­politik revolutionieren. Fast 80 Jahre später und trotz einer Reihe von Re­formen, die die Grundprinzipien des französischen Sozialmodells nach und nach geschwächt haben, bleibt die Vorstellung von der Rente als »fortgeführtes Gehalt« dominant gegenüber der liberalen Interpretation als »auf­geschobenes Einkommen«.

Das französische Modell hat sich auch in den ­vergangenen Jahren, sei es während der Krise von 2008 oder der Covid-19-Pandemie, als wirksame soziale Absicherung erwiesen. Auch das trägt zweifellos zur Verbundenheit vieler Franzosen mit dem Sozialversicherungssystem bei, das einst dem politischen Be­streben entsprang, den Menschen die »Angst vor dem Morgen« zu nehmen.