Volle Züge, volle Hotels, volle Hallen - reicht dann auch wieder mit der Buchmesse

Atemlos durch die Menge

Nach drei Jahren hat die Leipziger Buchmesse wieder stattgefunden. Im Ausklang der Pandemie wirken überfüllte Messehallen noch ungewohnt.
Raucherecke Von

Ein kalter Donnerstag beginnt in vollen Zügen. Die Leipziger Buchmesse öffnet nach langer pandemiebedingter Zwangspause wieder ihre Tore. Ironischerweise bespielt just in dieser Woche die Schlagerfee Helene Fischer an fünf ausverkauften Abenden die größte Konzertarena der Stadt. Ihre Fans verstopfen Waggons, Hotelzimmer, Straßen und Plätze. Immerhin sind die meisten offenbar Nichtraucher, so dass man im Dunstkreis der Raucherkneipe an Gleis 8 vor ihnen sicher ist. Nur einmal umsteigen noch, dann glitzert auch schon die Sonne auf den quadratischen Wasserflächen vorm Messegelände.

Der Menschenstrom, der aus Bahnen und Bussen in die Hallen quillt, wächst unablässig. Jedenfalls in Halle 4, wo sich die unabhängigen Verlage vorstellen. Die Covid-19-Pandemie scheint komplett vergessen – als hätte es nie einen Grund gegeben, Massenversammlungen in geschlossenen Räumen zu meiden. Einzelne bleiben beim Eintreten plötzlich stehen. Es wirkt, als hielten sie die Luft an. Für Zehntelsekunden scheint ihnen die Möglichkeit einer Ansteckung aus den Augen zu blitzen. Sind Masken inzwischen eigentlich verboten?

Bedürfnis nach Frischluft und Abstand. Mehr Abstand. Dann wieder rempeln, drängeln, knurren, im Sog der Normalisierungsbeschwörungsmenge: Watschelnde Buchmenschen mit vom Lesen gekrümmten Rücken und Bürgersleut’, die ihr (nicht nur) kulturelles Kapital in auffälligen Brillengestellen und teuren Ledertaschen manifestiert zur Schau tragen. Dazwischen Elfen mit echtem Moos in angeklebten Bärten, rotäugige Vampirinnen, Hummeln, Gevatter Tod, vernachlässigte Nerds, Teenager in heiklen Verfassungen – sie sind alle da. Und schieben einander vor sich her, durch die Reihen der Verlagsstände.

Niemand scheint die beiden Bewohner des Ritterguts in Schnellroda zu erkennen, die um Aufmerksamkeit buhlend durch die Reihen schreiten.

Doch so euphorisierend der Andrang gerade jüngerer Besucher und Besucherinnen auch ist – steigende Herstellungskosten und sinkende Einnahmen gefährden die Bibliodiversität, und alle hier haben zu kämpfen. Ob das auch für die beiden Bewohner des Ritterguts in Schnellroda gilt, die um Aufmerksamkeit buhlend durch die Reihen schreiten, hier und da Kataloge mitnehmen und »kieken, ob eener kiekt«, wie man in Berlin sagt? Zu erkennen scheint sie niemand. Ist das jetzt beruhigend oder nicht?

Definitiv beunruhigend ist, dass immer noch niemand das Konzept von Lesungen in Messehallen entsorgt hat, was auf schonungslose Weise die Rolle des Autors und der Autorin in der Umklammerung durch die Kulturindustrie zeigt: Ein verlorener Mensch an einem Funkmikrophon, das vor allem Störgeräusche überträgt, davor winzige Lautsprecher. Was auch immer da gelesen wird, verhallt hoffnungslos im Grundrauschen der Messe, in der unablässig von allen Seiten vorbeidrängenden plappernden Menge.

Meist hocken auf den unbequemen Sitzmöbeln vor der Bühne nur ein paar vom Lärm mürbe gemachte, in sich zusammengesunkene Menschen. Wohl dem, der da auf echtes Interesse stößt, auf Zuhörer und Zuhörerinnen, die gezielt zur Lesung gekommen sind. Wohl der, die noch einen klaren Gedanken fassen, ihn sogar halten kann.

Lieber wieder raus, in die Raucherecke, den Sonnenschein. Gespräche über die erste Einsicht des Kindes Eugène Ionesco in die eigene Vergänglichkeit, die erschütternde Situation iranischer Gefängnisinsassinnen, den Sinn oder Unsinn von schusssicheren Westen, kasachisches Dissidententum und scheiternde Graswurzelbewegungen in den Straßen Berlins. Ein atemloser Ritt durch die beschissene Nachtzone menschengemachter Vernichtungsszenarien.

Ein Tag auf der Buchmesse war wirklich genug.