Ein Abschied von der Vertrauensarbeitszeit ist nicht in Sicht

Lückenhafte Erfassung

Wegen eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs muss die Erfassung von Arbeitszeit strenger geregelt werden. Arbeitgeber laufen dagegen Sturm – dabei wird es auch zukünftig reichlich Möglichkeiten geben, Angestellten unbezahlte Überstunden abzunötigen.

Der Gesetzentwurf zur elektronischen Arbeitszeiterfassung klingt nüchtern und bestimmt: »Der Arbeitgeber ist verpflichtet, Beginn, Ende und Dauer der täglichen Arbeitszeit der Arbeitnehmer jeweils am Tag der Arbeitsleistung elektronisch aufzuzeichnen.« Woher die Aufregung bei den Verbandsvertretern der Arbeitgeber, der konservativen Publizistik und der FDP? Der Vorsitzende von Gesamtmetall, Oliver Zander, spricht von einem »Gruselkatalog« an Bürokratie, Widersprüchlichkeiten und Fortschrittsverweigerung. Der Kommentator der FAZ hält das Gesetz für »respektlos«, weil es den selbstbestimmten heutigen Arbeitnehmern mit Kontrollzwang komme. Der sozialpolitische Sprecher der FDP prangert eine »Totalüberwachung der Arbeitnehmer« an. Die Aufregung ist gekünstelt. In jedem deutschen Konzern ist noch die letzte Schraube elektronisch erfasst, aber die Arbeitszeit zu erfassen, sei bürokratischer overkill?

Die Vorgesetzten können meist darauf vertrauen, dass ihre Untergebenen mehr Arbeitszeit leisten, als eigentlich in ihren Arbeitsverträgen steht.

»Respektlos« ist es, die Überstunden seiner Angestellten nicht zu vergüten. 702 Millionen Stunden sind im vorigen Jahr laut Statistik zusammengekommen, die Hälfte davon unbezahlt. Die schamhaft verschwiegenen dürften nicht eingerechnet sein. Das Wort »Totalüberwachung« ruft die Diskussion zu Beginn der Homeoffice-Zeit in Erinnerung. Die größten Bedenken der Unternehmer galten dem Arbeitseifer ihrer Leute. Tun sie, wofür sie bezahlt werden, oder surfen sie nur im Internet? Wer Software zur Überwachung des Surfverhaltens oder zur Aufzeichnung von Tastaturanschlägen anbot, machte gute Geschäfte.

Das kommende Gesetz soll einen rechtsfreien Raum schließen, der im Zuge der sogenannten Vertrauensarbeitszeit in den vergangenen beiden Jahrzehnten entstanden ist. Die Vorgesetzten können seither meist darauf vertrauen, dass ihre Untergebenen mehr Arbeitszeit leisten, als in ihren Arbeitsverträgen steht. Wer sich wundert, warum sich die eine Vertragspartei zu Gunsten der anderen selbst übers Ohr haut, ist mit den heutigen Arbeitsbedingungen wenig vertraut. Überstunden fallen an, weil das Arbeitsvolumen in der regulären Zeit gar nicht zu schaffen ist. Überstunden werden unentgeltlich geleistet, weil der Arbeitnehmer auf das Wohlwollen seines Vorgesetzten angewiesen ist, wenn er mal einen freien Tag braucht, um nach der alten Mutter zu schauen. Mit der Selbstbestimmung abhängig Beschäftigter ist es nicht so weit her, wie der konservative Lobpreis der Verhältnisse gerne verkündet.

Liest man zwischen den Zeilen, so ist aus den Kommentaren der Arbeitgeber Erleichterung herauszuhören: Es hätte für sie schlimmer kommen können. Der Referentenentwurf lässt nämlich Schlupflöcher offen, mit der Vertrauensarbeitszeit kann es weitergehen. Die Pflicht zur Aufzeichnung der Arbeitszeit kann der Arbeitgeber an den Arbeitnehmer delegieren, Schlupfloch eins. Der Arbeitnehmer pflegt dann seine Excel-Datei, trägt stur ein: Kommen um 9.00 Uhr, Gehen um 17.00 Uhr, und schuftet brav die wirklich benötigte Zeit. Bei Führungskräften und in den Forschungs- und Entwicklungslabors muss die Arbeitszeit nicht erfasst werden, wenn die Tarifparteien dies vereinbaren, Schlupfloch zwei.

Naturwissenschaftler, IT-Fachleute oder Juristen gehören nicht zur klassischen Klientel der Gewerkschaften. Einen Betriebsrat oder gar einen Gewerkschafter aufzusuchen, gilt vielen von ihnen als ein Verstoß gegen einen Ehrenkodex. Dass bei den akademischen Kräften 60-Stunden-Wochen die Regel sind, stört die Gewerkschaft wiederum wenig, solange die Tarifarbeitszeit in den Werkshallen unangetastet bleibt. Dort sitzen die Beitragszahler, ihnen ist man verpflichtet. Wo Mitglieder fehlen, fehlt es an Verhandlungsmacht, und solange die höheren Angestellten es als unter ihrer Würde betrachten, sich einer Gewerkschaft anzuschließen, wird der für die Konzernchefs komfortable Zustand andauern.

Mit solchen Ausnahmeregelungen vergibt das demnächst verabschiedete Gesetz die Chance, die Arbeitskraft der Hochqualifizierten zu schützen. Die kennen Erschöpfung und Burn-out nicht bloß vom Hörensagen. Es geht dabei keineswegs um eine privilegierte Minderheit. In den modernen Industrien arbeiten wissenschaftlich qualifizierte Leute in einer den produzierenden Bereichen vergleichbaren Größenordnung.

Dass es überhaupt einen solchen Gesetzentwurf gibt, geht auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs von 2019 zurück, das alle EU-Staaten zur Regelung der vollständigen Arbeitszeitverfassung verpflichtet. Geklagt hatten gewerkschaftlich organisierte Angestellte einer Madrider Filiale der Deutschen Bank. Die wollten partout nicht am deutschen Wesen genesen. Die Spanier bestanden darauf, nur so viel Zeit am Computer und in der Schalterhalle zu verbringen, wie in ihrem Arbeitsvertrag steht.