Mysteriöse Wesen aus ­grauer Vorzeit

Mysteriöses Meeresmonster

Laborbericht Von

Die Paläontologie hat deutliche Fortschritte gemacht, seit im 17. Jahr­hundert die Überreste eines Narwals, eines Wollnashorns und eines Mammuts zum »Magdeburger Einhorn« zusammengepuzzelt wurden (eine groteske zweibeinige Kreation, die zu googeln sich unbedingt lohnt). Heute ist bei den meisten Funden aus grauer Vorzeit zumindest ungefähr klar, wo sie im Stammbaum des Lebens einzuordnen sind und wie ihre Anatomie zu interpretieren ist.

Selbst ein stacheliges wurmförmiges Wesen mit dem treffenden Namen Hallucigenia aus dem Kam­brium, also einer Zeit, in der sich die Baupläne der ­rezenten Tiergruppen gerade erst entwickelten, konnte inzwischen als Verwandter der noch heute existierenden Stummelfüßer identifiziert werden. Bis in die neunziger Jahre hielt man allerdings die Ober- für die Unterseite und das vordere für das hintere Ende des Lebewesens.

Doch es gibt sie weiterhin, die Fossilien, die sich hartnäckig jeder Klassifikation entziehen. Das gilt nicht nur für die fremdartige Ediacara-Fauna (»Puzzle mit Leben«, Jungle World 5/2019) aus einer Zeit vor mehr als einer ­halben Milliarde Jahren; auch jüngere Erdzeitalter haben rätselhafte Organismen zu bieten.
Die wohl härteste Nuss in dieser Hinsicht ist das sogenannte Tully-Monster. Vor rund 70 Jahren entdeckte der Fossiliensammler Francis Tully die ersten Exemplare des mit circa 15 Zentimeter Länge gar nicht mal so monströsen Tiers im Mazon Creek in Illinois, wo sich zahlreiche gut erhaltene Meeres­organismen aus dem Karbon vor etwa 300 Millionen Jahren finden lassen.

Tullimonstrum gregarium, so der offizielle Name der Art, besaß einen torpedoförmigen Körper mit ­einer Schwanzflosse – so weit, so normal für ein marines Lebewesen. Bizarr ist hingegen das Kopfende: Die waagerecht abstehenden Stielaugen und eine Art Greifarm mit zahnbewehrtem Kiefer könnten auch der Phantasie einer Science-Fiction-Autorin entstammen.

Noch mysteriöser als die Anatomie ist die phylogenetische Einordnung des Minimonsters. Bis heute ist umstritten, ob es in die Verwandtschaft der Wirbellosen oder der Wirbeltiere gehört – und das sind immerhin die zwei großen Gruppen, in die sich alle vielzelligen Tiere einteilen. In den vergangenen Jahren wurde das Rätselwesen wiederholt in die Nähe der Wirbeltiere gerückt: Ein Forschungsteam wollte bei einigen Exemplaren eine Chorda, also den evo­lutionären Vorläufer der Wirbelsäule, entdeckt haben, ein anderes fand Rückstände von Proteinen, die bei Wirbeltieren vorkommen.
Eine japanische Forschungsgruppe widerspricht dem allerdings in einer jüngst veröffentlichten ­Studie: Das Team unterzog die anatomischen Strukturen von mehr als 150 Tully-Fossilien einer statis­tischen Analyse und kam zu dem Schluss, dass die Merkmale auf ein wirbelloses Tier hindeuten. Die Antwort der Wirbeltier-Fraktion wird sicher nicht lange auf sich warten lassen.